Wenn man von Nürnberg aus in östlicher Richtung immer weiter und schließlich in das Tal hinauf wandert, in dem die Pegnitz fließt, schon beinahe bis dorthin, wo irgendwo auf der bewaldeten Hochebene die Oberpfalz beginnt, dann erreicht man ein kleines Dorf, in dem die Zeit so langsam vergeht, dass ein argloser Wanderer den Eindruck gewinnen könnte, sie sei vollends stehen geblieben. Etwas außerhalb dieses Dörfchens, oben auf dem Berg am Ende einer tannen-schwarzen Schlucht, steht seit unvordenklicher Zeit ein Einödhof, den schon seit Generationen dieselbe Familie bewirtschaftet. Vor einigen Jahrzehnten, als sich die Begebenheit zutrug, von der ich berichten will, lebten dort oben der Bauer, seine betagte Mutter, deren Schwiegertochter und die beiden halbwüchsigen Söhne.
Jedes Jahr im Herbst, wenn die Tage nicht mehr richtig hell werden und im Talgrund bis in den Nachmittag Nebel über dem Fluss wogt, räusperte sich eines Abends ein Schornstein nach dem anderen, hustete kurz und begann dann munter Rauch zu blasen. Grauer Rauch, weißer Rauch, manchmal mit schwarzen Sprenkeln, manchmal mit gelben, falls einer sehr harzige Scheite ins Feuer geworfen hatte, breitete sich über die Dächer des Dorfes aus. Dann und wann packte einen der Schornsteine der Übermut, und er begann dicke, blau-schwarze, sich rasend schnell aufplusternde Qualmwolken zu spucken, als wäre unter dem Dach des Bauernhauses ein Vulkan ausgebrochen.
„Da verschürt wieder jemand seine Großmutter“, bemerkte bei solchen Gelegenheiten der Herr des Einödhofes lakonisch, und sein zweitgeborener Sohn wunderte sich im Stillen immer aufs Neue, wieso jemand seine Oma in den Ofen stecken sollte, denn die Oma musste doch Mützen und Fäustlinge für den nahenden Winter stricken und vor dem Zubettgehen mit brüchiger Stimme den Enkeln das Lied vom guten Mond singen.
Der Weg hinab ins Dorf war von dichtem Wald gesäumt und machte mehrere Kehren. Wenn die beiden Jungen frühmorgens ins Dorf hinunter zur Schule gingen, zählten sie die Kurven ab und gerieten darüber jedesmal in Streit. Der Jüngere zählte bis fünf, der Ältere nur bis vier.
„Krümmung allein reicht nicht, um eine Kehre auszumachen“, belehrte der Ältere den Jüngeren, wenn sie den Hohlweg verließen, „es handelt sich nur um eine Biegung.“
Gleich hinter der letzten Kehre endete der Wald beim ersten Anwesen des Dorfes. Noch vorher, in der vorletzten Kehre, der dritten oder vierten also, die der Weg vom Einödhof hinab ins Dorf machte, stand eine winzige, uralte Kate, aus Stroh und Lehm gebaut, schief und krumm wie eine Vogelscheuche – ein Hexenhäuschen wie aus dem Bilderbuch, darin wohnte die alte Witwe Mörtler, die noch in einer Zeit geboren worden war, als es in Bayern einen König gegeben hatte und die Menschen das elektrisches Licht aus Glühbirnen für ein Werk des Teufels gehalten hatten.
Am frühen Nachmittag eines klamm-kalten Tages Ende Oktober stieg eine so gewaltige Rauchsäule in den bleigrau verhangenen Himmel, wie man sie nur selten zuvor gesehen hatte. Der Vater der Jungen stand am Fenster der Küche und wies mit dem Finger hinab ins Tal. Jemand verheize dort seine Großmutter, erklärte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch erlaubte. Die Mutter trat zu ihm und stellte fest, dass es der Schornstein der Witwe Mörtler sei, der da qualmte, und dass die Alte hoffentlich nicht übertrieb und ihre Kate in Brand setzte. Dies reichte vollkommen aus, um die Neugier der Buben zu wecken, die sich schnell hinaus in den Flur schlichen, um sich flüsternd zu beraten.
„Los!“ sagte der ältere Bruder. „Wir schleichen uns bei der alten Mörtler an und schauen zu, wie sie den Ofen heizt.“
Der Jüngere war verunsichert. Er hasste es, bei Dunkelheit durchs Gebüsch zu kriechen, er fürchtete sich gleichermaßen vor der Schelte der Eltern wie vor den Gespenstern, die in der Dämmerung nisteten, doch zum einen wagte er es nicht, sich vor seinem großen Bruder eine Blöße zu geben, und zum anderen zwickte ihn unbezwingbar die Neugierde … schon waren sie zur Vordertür hinaus geschlüpft und kauerten wenige Minuten später am Eingang zur dritten oder vierten Kehre, keuchend und mit klopfenden Herzen.
„Die Alte qualmt ja ganz gewaltig!“ raunte der Ältere. „Wir müssen näher heran!“
Und wenn, dachte der Jüngere, und wenn die Witwe wirklich eine Großmutter verschürt? Die Witwe selbst war indes schon eine alte Frau, und alte Frauen waren Großmütter, schlussfolgerte der Jüngere, demnach stammte der dicke gelbe Rauch, der nach Fichtenzapfen und etwas Bitterem, das er nicht einordnen konnte, roch, von der Mörtler-Witwe, die sich selbst verheizte! Wie konnte das sein? Er fühlte, dass es nur einen Weg gab, dieses Rätsel zu lösen: dem Bruder hinterher sich so nahe wie möglich an die Witwe heranzupirschen!
Sie krochen am Gartenzaun des Anwesens entlang. Die Pfähle und Bretter waren vom Wetter zerfressen, geknickt und tief zu Boden geneigt, und rasch hatten die Brüder eine Stelle gefunden, wo sie in den Obstgarten hinter dem Haus schlüpfen konnten. Geduckt tappten sie zum schmalen, hell erleuchteten Fenster der aus Ziegelsteinen gemauerten Waschküche, die sich seitlich an das Wohnhaus lehnte, stellten sich auf Zehenspitzen und lugten vorsichtig hinein. Nur eine Armeslänge vor ihnen werkelte die alte Frau, deren Haar dünn und gelblich vom Kopf stand, deren Rücken gebeugt und deren Beine von der Last der Jahre krumm gebogen waren, an einem gußeisernen Kasten. Aus einem Schacht an der Vorderseite schlugen lodernde Flammen, oben ragte aus dem Apparat das Ofenrohr hervor und winkelte sich zweimal bis zum Kamin, dessen Rauchsäule die Schlucht weithin vernebelte.
Deutlich erkennbar baumelten längliche Gegenstände im Rauchfang, schwarz und spindelförmig, und neben der Witwe stand ein geflochtener Weidenkorb, in dem diese mit Hilfe einer langstieligen eisernen Zange stocherte. Obwohl sie schwarz verfärbt, durchlöchert und zerfetzt waren, konnten die Jungen auf Anhieb erkennen, worum es sich handelte: die Witwe angelte aus dem Korb einen alten Socken nach dem anderen und verfrachtete ihn ins Feuer.
Plötzlich bellte unmittelbar hinter ihnen ein Hund. Zwar kannten sie den Hund der alten Frau und der Hund kannte sie, beide Parteien waren sich für gewöhnlich freundlich gesonnen, doch die Witwe erschrak, riss den Kopf hoch und stierte mit glitzernden Augen zum Fenster, und weil der Hund sich nicht beruhigen wollte, nahmen die Brüder Reißaus, hasteten durch das Zwielicht des Gartens, kletterten über den Zaun – wobei unter dem älteren Bruder ein Brett entzwei brach – und stolperten durchs Dickicht bis sie schließlich keuchend und mit heißen Wangen das schützende Heim erreichten.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und der Vater verbrachte den Vormittag beim Kartenspiel in der Dorfwirtschaft, neben der Brücke über den Fluss. Pünktlich zum Mittagessen kam er wieder nach Hause. Er roch nach Rauch und Bier und behauptete wie stets, seine Zeche beim Schafkopf gewonnen zu haben. An jenem Sonntag brachte er außer dem Wirtshaus-Geruch noch ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Bündel mit, das ebenfalls intensiv duftete.
„Ich habe euch eine Köstlichkeit mitgebracht, Kinder“, verkündete er mit stolzgeschwellter Brust, „die alte Mörtler stand am Zaun, als ich vorbei ging und bot mir frisch geräucherte Forellen an – früher räucherte ihr Mann den Fisch, und niemandem gelang es annähernd so gut wie ihm. Er scheint seiner Frau die Rezeptur hinterlassen zu haben …“
Erschienen in den Fürther Nachrichten vom Dienstag, 13. Januar 2010
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