Turm, Ring, Känguru

Anlässlich des ersten Ausflugs in die Stadt Nürnberg, an den ich mich erinnern kann, sah ich mit vier oder fünf Jahren – von Osten aus dem Nürnberger Land kommend – den Rundturm, der am Rathenauplatz die Einfahrt zum Laufer Tor flankiert, wie ein versteinerter Sumo-Ringer, ein kolossales Phallussymbol des spätmittelalterlichen Festungsbaus, aus gewaltigen roten Sandsteinbrocken lückenlos aufgeschichtet und mein Dorfbubengemüt beispiellos beeindruckend, gleichsam energetisierend.

Dieses Ding verkündete noch am Ende des zwanzigsten Jahrhundert in klar verständlicher Sprache die Willkommensbotschaft der Nürnberger Ratsherren: Obacht! Überlegt Euch gut, ob Ihr Euch mit uns anlegen wollt! Weil: wir haben einen ganz gigantisch dicken Dingens, Ihr wisst schon!

Ich schätze, ich baute in der Folge im Sandkasten hinter unserem Haus mehrere Hunderte solche Türme, die jedoch alles andere als die von mir gewünschte gigantomanische Größe erreichten. Am Ende gelangte ich zu der Einsicht, dass loser Sand kein Ersatz für Stein ist. Eine kleine Erkenntnis für mich, eine fundamentale für den Rest der Menschheit, denn die katastrophalen Folgen, die es andernfalls für die Welt gehabt hätte, mag man sich gar nicht ausmalen. Zumindest, wenn ich Architekt geworden wäre.

Meinem Großvater jedoch hatte der Schalk im Nacken gesessen, als er auf meine Frage, was in diesem fensterlosen gigantischen Trumm von Turm eigentlich innen drinnen sei, in aller Seelenruhe und wie aus der Pistole geschossen geantwortet hatte: „Sand. Damit er nicht umfällt.“

Überhaupt ließ mein Großvater nie auch nur den winzigsten Zweifel daran zu, dass er sich in Nürnberg perfekt auskannte und zu jedem Hauseck eine blümerante Geschichte erzählen konnte, beginnend in der Steinzeit bis zu einem spektakulären Kriminalfall, der erst vor drei Stunden genau hier und nirgendwo sonst stattgefunden hätte.

Oben an der Marienbergstraße, da wo es links zum Flughafen abgeht, steht rechts ein auffälliges Denkmal, ein meterhoher Ring aus mit Rost überzogenem Stahl, der oben gebrochen zu sein scheint. Aus der anderen Richtung steht der Ring natürlich links und es geht rechts zum Flughafen, im Zweifelsfall einfach auf beiden Seiten gucken. Mir geht es darum, dass mein Großvater behauptete, dieser Ring erinnere an einen Flugzeugabsturz. Und tatsächlich: das Ding sieht so aus, als solle es an etwas Großes, Wichtiges oder Rundes erinnern, das in der Nähe kaputt ging.

Ein Frachtflugzeug voll Wurst sei in den 1960er Jahren abgestürzt, behauptete mein Großvater, mitten ins Knoblauchsland, und es seien die zwei Piloten und der Bordmetzger ums Leben gekommen. Der Ring symbolisiere, so dozierte mein Großvater im Brustton der Überzeugung, einen unterbrochenen Kreislauf zwischen Nürnberg und Japan. Denn die Flugzeuge, die am Herweg voll geladen mit Sushi seien, brächten auf dem Rückweg Nürnberger Rostbratwürstchen nach Tokio.

Ich glaubte das, und waren mehr als 20 Jahre vergangen, da chauffierte ich einen japanischen Gast, bei dem ich einen möglichst guten Eindruck hinterlassen wollte, mit dem Auto zum Flieger. Und so wie damals ich, als kleiner Bub, wunderte der Gast sich im Vorüberfahren über das seltsame Monument, das da direkt neben der Straße, am Rande der Gemüsefelder steht.

Ich gab mich natürlich als kompetenter Kenner der Ortsgeschichte und gab die Mär vom Absturz des Wurstfliegers zum Besten.

Dumm war nur, dass der Gast zurück zu Hause im Internet recherchierte und herausfand, dass ich ihn angelogen hatte. Bzw. mein Großvater mich, aber das ist keine rechte Entschuldigung. Meine Reputation ging den Bach hinunter. Tatsächlich war 1974 im Wald bei Behringersdorf ein Flugzeug abgestürzt, doch das hatte Blumen aus Nizza geladen gehabt, und bei dem Ring handelt es sich um „Unexpected I“, eine Plastik des Bildhauers Buky Schwartz, aufgestellt 1971 im Rahmen des umstrittenen Symposions Urbanum.

Aber ich lernte inzwischen aus meinen Fehlern, legte meine kindliche Leichtgläubigkeit ab. Skeptisch und aufgeklärt hinterfrage ich heute alles, glaube keinerlei Behauptung, ohne diese zuvor mindestens drei mal überprüft zu haben.

Und nun muss ich schnell zum Schluss kommen. Mir ist gestern nämlich ein Känguru zugelaufen, das vermutlich aus einer Zoohandlung entwischt ist. Ich muss dringend zu einem Süßigkeitenladen, Futter für das Tier besorgen. Zwar habe ich selbst keine Ahnung von Kängurus, doch mein Vater, den ich sofort anrief, versicherte mir, außerhalb Australiens würden sie sich ausschließlich von Eukalyptus-Bonbons ernähren …

Erschienen in den Fürther Nachrichten vom 29. Oktober 2013.


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