Poesie im Humor / Wie Zunge im Ohr

Was den „Fachmann“ auszeichnet, ist seine Vielgestaltigkeit. Dass er auch Raum für poetische Miniaturen lässt, die sich mit höchster Aufmerksamkeit einer kleinsten Einzelheit des Lebens widmen. Es kommt dabei dann weniger auf Kürze als eben auf dichterische Sorgfalt an. Hier ein paar derartige Beiträge meinerseits.

(1) Regelungsdefizit
Welche Regeln sind eigentlich für den Fall vorgesehen, dass eine verlorene Wimper, die eine Person von der Fingerspitze bläst, während sie sich im Stillen etwas wünscht, einer anderen Person, mit der die erste Person sich in diesem Augenblick das Kopfkissen teilt, genau ins Auge fliegt? Darf dann die andere Person diese Wimper aus dem getroffenen Auge fischen und wiederum selbst zur Wunscherfüllung verwenden, insbesondere, wenn sie nicht bemerkt, dass es keine Eigen- sondern eine Fremdwimper ist, und wird der zugehörigen Wunsch gegebenenfalls der blasenden Person oder dem tatsächlichen Wimpernspender zugerechnet? Muss nicht vielmehr dem Missbrauch von Wimpern ein Riegel vorgeschoben werden, der sich aus der im Prinzip unbegrenzten Wiederverwertung von einzelnen Wimpern durch gezieltes Pusten ergibt? Gesetzgeber – übernehmen Sie!

Vom Fachmann für den Kenner erschienen in Titanic Heft 330 / 28. Jahrgang, April 2007

(2) Kontemplation
Es gibt im Leben bekanntlich Momente, die sind ganz nett, es gibt auch solche, die sind einfach schön, und es gibt natürlich jene, die so unfassbar schön sind, dass, wenn ich in solchen Momenten ein Jagdgewehr bei der Hand hätte und wenn die Zeit ein buntgefiederter Vogel wäre, ich sie ohne zu Zögern abknallen würde – damit sie nicht mehr verfliegt. Peng!

Vom Fachmann für den Kenner erschienen in Titanic Heft 350 / 29. Jahrgang, Dezember 2008

(3) Idyll
Das erste Licht der aufgehenden Sonne fließt über die steilen Felsen des Tafelberges hinab ins Tal. Über den satt-gelben Kornfeldern flackern sterbende Nebelschwaden. Die Blüten der wilden Rosen, die sich um den schmiedeeisernen Torbogen der Gartenpforte ranken, sind geschlossen, als ob sie noch schliefen, aber schon glimmt in den rosafarbenen Knospen die Glut der Vorfreude auf den Sommertag. Direkt neben der Pforte steht der alkoholkranke Bauer vom Hof gegenüber, der seit sechs Uhr morgens darauf wartet, dass ich aus dem Haus trete und ihm eine Flasche Bier spendiere. Des verwahrlosten Trinkers blaue Arbeitshose ist hinten bis zu den Kniekehlen aufgerissen, und sein bleicher Hintern strahlt mir entgegen wie ein untergehender Mond – wie soll ich’s anders sagen? In diesem Augenblick befinden sich Mensch und Natur im perfekten Einklang!

Vom Fachmann für den Kenner erschienen in Titanic Heft 352 / 30. Jahrgang, Februar 2009

(4) Im Rausch der Tiefe
Schmutzig-weiß quillt eine Schaumkrone auf, steigt bedrohlich an, überschlägt und unterläuft sich zugleich, schleimige Blasen schlägt das schwappende Chaos und kriecht in zahllose Ritzen und Spalten, doch dann ergießt sich die spritzende Gischt endlich in hohem Bogen, klares Flüssigkeit flutet kristallklar-mächtig herein, den Kehricht mit sich reißend, und spült im wirbelnden Strudel allen Unrat hinweg und hinab in den Orkus und ins ewige Nichts … schon als Kind kostete es mich immense Kräfte, ob der dramatischen Ereignisse beim Zähneputzen die Nerven zu bewahren.

Vom Fachmann für den Kenner erschienen in TITANIC Heft 439 / 37. Jahrgang, Mai 2016


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