Einmal jährlich

2019 – das Jahr vor Corona. Wer hätte sich damals vorstellen können, wie diese winzig kleinen Covid-Mikroben nur wenige Monate später unsere stolze Moderne durcheinander bringen würden? Im Sommer waren wir noch auf der Biennale in Venedig gewesen, das damalige Motto, „May you live in interesting times„, wie ein Fingerzeig – rückblickend natürlich, aber das ist ja das spannende an der Zeit an sich, dass sie sich makroskopisch nur in eine Richtung bewegt, hin zur größeren Entropie. Egal – angesichts dessen, welch wunderliches Verhalten manche Menschen dann im Lockdown und ff. entwickelten, inklusive Leugnung der biologischen Realität und antisemitischem Verschwörungswahn gegen Impfungen (die meiner Meinung nach eine der größten Errungenschaften der Moderne sind!) – naja, da fand ich dann den Titel meiner düsteren, kleinen Krimi-Story auch schon wieder ansatzweise hellsichtig.

Im Würgegriff der Psyche

Sie hatte ja bis zum Schluss gehofft, dass alles gut werden würde.

Ihr erster Mann hatte sie verlassen, da war das Kind erst zwei Jahre alt gewesen, ein Frühchen. Zahllose Nächte hatte sie bei der Kleinen gewacht, das hatte ihre Ehe, von Anfang an kein Muster der Stabilität, zusätzlich belastet, bis er schließlich die Freudlosigkeit nicht mehr ertrug und ohne Abschied verschwand.

Und dann die große Enttäuschung mit dem neuen Ehemann. Einem Kollegen, der nach Außen hin eine heile Welt vorspielte, sich jedoch hinter verschlossenen Türen in einen brutalen Chauvinisten verwandelte, der sie wie eine Sklavin behandelte.

Als sie schon aufgegeben wollte – die Kinder vergiften, den Kopf in den Gasherd stecken – traf sie Andreas. Ein Künstler, der sich reizend um sie bemühte, der sich nett und umgänglich gab. Sie zog nach wenigen Wochen zu ihm und anfangs störte sie nur sein Gelächter, das an das Wiehern eines Pferdes erinnerte.

Prediger in einer Sekte – als sie das herausfand, fühlte sie sich, als hätte man ihr auf den Kopf geschlagen, die Betäubung war nicht mehr gewichen, seit über einem Jahr schon. Andreas betrank sich einmal im Quartal, verwandelte sich in einen schreienden Racheteufel, der ihr stundenlang grässliche Sünden und einen von Grund auf verdorbenen Charakter vorwarf.

Schließlich hatte sie genug. Sie würde ihre Qualen selbst beenden, würde diesen Satan erstechen. Sie stand mit dem Hirschfänger, den der erste Mann zurückgelassen hatte, an der Tür zu dem Studio unterm Dach. Andreas hatte sie zuvor über mehrere Stunden angebrüllt, hatte tobend eine ganze Flasche Schnaps geleert. Sie holte tief Luft, ballte mit aller Kraft die Finger um den Griff des Messers und stieß die Tür auf. Es war absolut still im Raum, und als sie die Augen öffnete, sah sie die krumme Gestalt von der Decke baumeln.

Als sie den Strick abschnitt, schlug der Leichnam hart auf den Holzfußboden. Ein übermächtiges Schluchzen schüttelte ihren zarten Körper, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Tränen der Erleichterung, Tränen der Freude.

ars vivendi Krimikalender für das Jahr 2019, ISBN-13: 978-38691-39401 (2018)


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