Als ich gefragt wurde, ob ich für ein geplantes Zine einen Text beitragen wolle, war ich hocherfreut. Das Thema würde „Müde Tiere“ lauten und eine einwandfreie Gelegenheit bieten, endlich den einzigen realen Fall von Wiedergeburt, der mir im Leben je begegnet war, aufzuarbeiten. Das Endprodukt, ein Heftchen, welches der Spezies ‚Zine‘ angehört, ist liebevollst gestaltet, enthält noch diverse andere Beträge und ist erhältlich bei der edition blumen.
Wiedergeborensein
Wir konnten es im Nachhinein nicht mehr genau sagen, wann mein Vater anfing, daran zu glauben. Doch nachdem er einmal seine Vermutung laut ausgesprochen hatte, verflüchtigten sich seine letzten Zweifel. Bis heute, vierzig Jahre später, ist er fest davon überzeugt, dass in einer der Katzen, mit denen wir unseren Haushalt teilten, sein eigener Großvater gesteckt hatte.
Er könne es daran erkennen, wie ihn das Tier anschaue, so mein Vater, in dem Kater sei sein Vorfahr wiedergeboren worden, der Blick sei unverwechselbar. Es versteht sich von selbst, dass von nun an das Katzenvieh wie ein Prinz verwöhnt und verhätschelt wurde.
Da ausschließlich sie seine Ansprüche an die Weichheit und Flauschigkeit einer Unterlage erfüllen konnten, legte sich »Opa«, wie er bald nur noch gerufen wurde, am liebsten auf andere schlafende Katzen. Eine schlief immer, wenn sich Opa niederlegen wollte. Und nur, weil es ihm allen Versuchen zum Trotz nie gelang, auch im Schlaf zu fressen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinen Opfern, die dann erst einmal tief durchschnauften. Wenn sie noch schnauften. In jedem Fall waren sie unter dem Fell blau angelaufen, so viel war klar, auch wenn uns das Fell daran hinderte, uns mit eigenen Augen davon zu überzeugen.
Mehr als einmal musste man seine eigene Mutter unter ihm hervorziehen, die mit hervorquellenden Augen nach Luft schnappte. Eine gute Mutter, eine sanfte, liebevolle Mutter. Eine sehr, sehr dumme Mutter.
Wie viel Opa am Ende wog, ist bis heute ein Rätsel. Eine computergestützte Bildanalyse alter Fotos schätzt sein Volumen auf zwanzig bis dreißig Liter. So weit – so nachvollziehbar. Doch was ist das spezifische Gewicht einer Katze? Ein Freund von mir, dessen Namen hier keine Rolle spielt, konnte mir dazu erstaunlich genaue Daten liefern. In seinem Viertel sind die Laternenmasten von unten bis oben mit diesen »Katze entlaufen – wer hat sie gesehen?«-Zetteln… naja, das gehört allerdings nicht hier her.
Im Winter, wenn draußen Schnee lag, hockte unser dicker Kater stundenlang vor der Haustür und maunzte. Wohlgemerkt: im Haus. Wenn sich die Tür öffnete, blickte er hinaus auf den Schnee, auf die gefrorenen Bäume und vereisten Wege, schüttelte sich angewidert und blieb hocken, bis man die Türe wieder schloss.
Da ihn jedoch die volle Blase vom Schlaf abhielt, gab er aber irgendwann auf, wendete seinen massigen Körper und eierte im Rückwärtsgang hinaus auf den Fußabstreifer. Mit einer zugegebener Maßen gewissen Grandezza pisste Opa rückwärts in den Schnee vor der Türschwelle, ehe er zurück zum Sofa watschelte und sich eine der anderen Katzen aussuchte, um sich mit einem erleichterten Seufzen auf ihr niederzulegen.
Für jemanden wie mich, der den ganzen Kreislauf der Lebensformen noch vor sich hat, ist es müßig zu spekulieren, wie es sich wohl anlassen wird, wiedergeboren worden zu sein. Eines jedoch scheint mit sicher: eine Wiedergeburt macht vor allem sehr, sehr müde.
aus dem Zine „Müde Tiere“, hrsg. von Christian Dümmler im Juni 2021
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