Felsenstürmerwahn

Ein Bürgermeister klettert nicht

Der Bürgermeister war im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Kerl. Nicht mehr ganz jung, jedoch im Vergleich zu einer großen Mehrheit der Einwohner des abgelegenen und ein wenig in Vergessenheit geratenen Dorfes einer der umtriebigsten.

Der Kletterer-Maler beziehungsweise Maler-Kletterer hatte ihn angeschrieben. »Ein verrücktes Konzept, klar«, dachte der Bürgermeister, »aber waren diese Künstler nicht alle ein wenig schräg im Kopf?« Der Typ wollte einfach einen der Jurafelsen im Wald über dem Dorf exklusiv für seine Kunst nutzen. Ein quasi am Seil hängendes Atelier einrichten.

Erst als es darum ging, wie eine Gegenleistung an die Gemeinde aussehen könnte, begann es im Bürgermeister zu arbeiten. Der Künstler war in der Region nicht ganz unbekannt, zudem die malerischen Täler, sagenumwobenen Kalkstein-Riffe und Felswände hierzulande immer häufiger internationale Klettersportler anlockten.

Die jungen Menschen in ihren kasperlsbunten Sportklamotten belegten jeden Sommer einen erklecklichen Teil der Gästezimmer, sie kauften im Dorf ein, und gingen am Abend in die Wirtshäuser, um ihren gewaltigen Appetit zu stillen, den die körperlichen Anstrengungen in der guten frischen Luft geweckt hatte. Bald schon würde man einen neuen Wanderparkplatz bauen müssen, damit die Horden ihre individuell ausgebauten T4 VW-Camper abstellen und die Trockenklos entsorgen konnten.

Der Bürgermeister entschied sich erst in letzter Minute. Er hatte sich mit dem Kletter-Maler/Maler-Kletterer auf der Spitze des prominentesten Rifflers verabredet. Selbst wäre er nie auf die Idee gekommen, die Felswand hinauf zu kraxeln. Wenn es doch einen bequemen Weg durch den Wald gab, wieso sollte er die gefährliche und anstrengende Route direkt die Wand hinauf nehmen?

Ein Sturz wäre in jedem Fall tödlich, ohne Zweifel. Ebenso wenig daran, dass die Werke eines verunglückten Künstlers schlagartig ein Vielfaches an Wert besäßen. Eine Verknappung des Angebots ließe die Preise steigen, zumal ein Unfall des Maler-Kletterers/Kletterer-Malers große mediale Aufmerksamkeit erregen würde.

Und so wurde der Deal, der ihm zunächst unglaublich vorteilhaft erschienen war, dem Künstler zum Verhängnis: dass er der Gemeinde ein Viertel aller Bilder überlassen hatte, die er in luftiger Höhe am Seil hängend malte. Denn nach einem guten Dutzend war dann schlagartig Schluss und die Preise kletterten in astronomische Höhen.

ars vivendi Krimikalender für 2024, ISBN-13: 978-3747204955 (2023)


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