Der Stress-Bernd
In Franken sind sie ja nicht wirklich einfach anzutreffen, aber woanders treten sie regelmäßig in Erscheinung. Jene gewissen Charaktere, die permanent unter Stress stehen. Die Stress ausstrahlen wie andere Leute Schweißgeruch oder Müdigkeit. Solche Typen, die im Kino aufspringen und hinausrennen, sobald die erste Zeile des Abspanns läuft. Die für einen Blitzbesuch mit dem Taxi vom Bahnhof ins Museum jagen, wenn der Zug mal knapp eine Stunde Aufenthalt hat, und die sofort nach der Rechnung rufen, bevor noch der Letzte am Tisch die Gabel zur Seite legt, weil sie exakt neununddreißig Minuten fürs Essen eingeplant haben, ehe sie weiter zum Konzert müssen.
Der »Stress-Bernd« allerdings war von der ganz anderen Sorte. Vom Bernd sagten alle Leute, die ihn kennenlernten, dass der an keinem Herzinfarkt sterben würde. Der Stress-Bernd war tiefenentspannt, der kannte das Wort »Hetze« nur vom Hörensagen. Aber seinen Spitznamen hatte er sich trotzdem redlich verdient, denn früher oder später trieb er jeden in den Wahnsinn. Und zwar weil der Stress-Bernd sich für alles so unglaublich lange Zeit ließ. Das erledigte er mit solcher Bravour, dass es seine Umgebung unwahrscheinlich stresste. Die einen, die über große empathische Fähigkeiten verfügten, früher, die anderen, denen die Natur ein dickeres Fell geschenkt hatte, später. Aber irgendwann drehte jeder durch, der mit Bernd zu tun hatte, im Sportverein, in der Kneipe, beim Autofahren oder beim Einkaufen.
Saßen alle hungrig um den Tisch, bekam Bernd als erster das Schäuferle hingestellt. Dampfend stand es vor ihm, jedem lief das Wasser im Munde zusammen und keiner wäre da am Tisch gesessen, der an der Stelle vom Stress-Bernd nicht sofort die Zähne ins mürbe Fleisch und die zarten rohen Klöße gerammt hätte. Doch der Bernd hatte keine Eile. Er berichtete unbeirrt vom gestrigen Fußballspiel, erzählte umständlich, wie sie in der Schulzeit einem Lehrer einen Streich gespielt hatten, hielt eine politische Rede oder lobte mit blumigen Worten das Bier. Bloß das Schäuferle, das allen Menschen um Bernd herum die Tränen des Neides in die Augen trieb, das rührte er viertelstundenlang nicht an. Und er ignorierte meisterhaft, dass seine entnervten Zuhörer die Fäuste ballten und anfingen, vor lauter Stress mit den Zähnen zu knirschen.
Wie in diesen Spielfilmen, wo sich Leute am Bahnhof (oder an der Bushaltestelle oder am Flugsteig) verabschieden. Im Hintergrund wartet der Zug, die Lokomotive pfeift, der Schaffner ruft »Einsteigen!«, aber das Liebespaar redet immer weiter, sie küssen sich, sie umarmen sich, sie beginnen, sich gegenseitig die Relativitätstheorie zu erklären, sie sprechen über das schwierige Verhältnis mit dem Vater, sie gestehen einen Bankraub und uneheliche Zwillinge aus einer anderen Beziehung, sie leisten ewige Schwüre, sie dichten ganze Opern, sie berechnen den Weltuntergang – aber sie steigen einfach nicht ein, ums Verrecken nicht.
Es gibt Menschen, die so sehr mit dem Zug und dem Schaffner und dem Lokführer mitfühlen, dass sie beim Fernsehen durch solche Szenen komplett gestresst werden. Die einen müssen auf der Stelle ausschalten, andere schreien den Bildschirm an und verfluchen den Regisseur bis in die fünfte Generation – alles was sie noch denken können ist: »Mach! Jetzt! Endlich! Hinne! Du! Vollpfosten!!!«
Bernds Paraderolle war es, sich aus großer Runde zu verabschieden. Und zwar stundenlang – ohne jemals wirklich zu gehen. Er umarmte jeden Einzelnen, erklärte ausführlich, dass er nun dringendst und allerunbedingtenst gehen müsse, begann dabei aber unausweichlich ein Gespräch, dass ihn jeweils etliche Minuten fesselte. Am Ende war er stets der letzte Gast. Alle anderen waren zuvor entsetzlich fremdgestresst nach Hause gegangen, nachdem dieser Druck auf sie übergesprungen war, den Bernd mit seiner Ankündigung wie aus dem Nichts erzeugt hatte: »Ich muss jetzt sofort los, sonst ist alles zu spät.«
Sein Tod kam dennoch für alle überraschend. Auf einem Zebrastreifen. Es half ihm auch nichts mehr, dass der Fahrer des Wagens, unter dessen Räder Bernd kam, behauptete, ihn irrtümlich für einen Todfeind gehalten zu haben.
Bernd hatte derartig langsam die Straße überquert, hatte zu allem Überfluss direkt vor dem Kühler des wartenden Fahrzeugs angehalten und dem Fahrer ein entspanntes Lächeln geschenkt, dass dieser einfach ausrastete und aufs Gaspedal trat.
Weil Bernd mit seiner Langsamkeit einfach jeden stressen konnte. Sogar wildfremde Leute, die ihn aus einem Auto heraus erblickten. Und ihn dummerweise mit einem Ex-Kollegen verwechselten, der den Fahrer vor ein paar Jahren auf die fieseste Art aus einer Firma gemobbt hatte. Was diesen natürlich fürchterlich gestresst hatte.
Fürther Nachrichten in der Ausgabe vom 27. November 2018
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