Kärwa-Zeit = Zeitdokument-Zeit

Hübsch – wie harmlos und bieder mir der Text heute erscheint. War die Welt 2018 wirklich noch in Ordnung? Eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt. Immerhin gab es auch damals einen Donald Trump und das Loch im Zentrum der Milchstraße ist ebenfalls immer noch da. Immerhin: wenn nicht die Fürther Kärwa, was sonst wäre es wert, verklärt zu werden?

Das Appetitwunder von Fürth

Es gibt so unvorstellbar gigantische Dinge auf dieser Welt, dass es kaum zu begreifen ist: die Pyramiden von Gizeh, das Ego von Donald Trump, der Einfallsreichtum finnischer High-Speed-Death-Metal-Bands. Unermesslich ist ein jedes alleine und für sich. Die Tiefen des Ozeans, die Weiten Asiens, die Schwüle der Tropen, die Staatsverschuldung der USA. Dito das schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße, die Hochhäuser von Shanghai und die Verspätungen der Deutschen Bahn. Und jedes Jahr, genau einmal und rein zufällig um Michaelis herum erwache ich zeitig am Morgen und habe unvorstellbaren Appetit. Mehr Appetit als im gesamten restlichen Jahres zusammen. Einen Appetit, der ungefähr Ausmaße und Gewicht des ganzen Sonnensystems hat.

Dann weiß ich: es ist soweit, ich muss sofort meinen Appetit-Kumpel anrufen, mit ihm nach Fürth fahren und dort so unglaublich riesige Mengen essen, dass es mir manchmal vorkommt wie im Märchen, so unglaublich ist, was alles in uns hinein passt, ohne dass einer von zerplatzt, im Erdboden einbricht oder noch schlimmeres.

Das ist völlig unerklärlich und extraordinär, es geschieht nur während der Fürther Kärwa, und ich nenne des Appetitwunder des heiligen Michael. Es gibt da nichts, was uns nicht schmecken würde. Bauchfleisch, Bratwurst und Bismarckheringe. Marzipankartoffeln und gebrannte Mandeln, Kartoffelbaggers und Rumkugeln. Backfisch, Ochsensemmel, Steak mit Kräuterbutter, Zwiebelkuchen, ganze Hähnchen und Pommes – das alles und noch viel mehr. Die Aufeinanderfolge der Leckereien und Köstlichkeiten will kein Ende nehmen, während wir vom Fürther Rathaus bis über die Freiheit und zum Babylon und wieder zurück zum Stadttheater spazieren.

Wir fressen uns komplett durch, mein Appetit-Kumpel und ich, eins nach dem anderen kommt an die Reihe. Wir lassen nichts aus und wir haben keine Eile, sondern Appetit, unersättlichen Appetit! An dieser überwirklichen Unstillbarkeit unseres Appetits haben freilich nicht die Außerirdischen oder die Freimaurer oder die geheime Weltregierung oder die Chemtrails oder die Strichcodes auf den Warenettiketen schuld, sondern ganz allein die Fürther mit ihrer erweckungserlebnisgleichen Zauberkirchweih.

Und am Ende steigen wir satt und zufrieden in die U-Bahn nach Hause und freuen uns, dass die Ingenieure ordentliche Arbeit abgeliefert haben und die Waggons nicht unter unserem Gewicht auseinander brechen.

Fürther Kärwa-Zeitung 2018. Auch gleich Appetit bekommen?


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