Man liest ja manchmal von berühmten Schauspieler*innen oder Schriftsteller*innen, sie lebten „in New York und Berlin“ oder sie arbeiteten „in Wien, London und Bietigheim-Bissingen“. Bei mir hat’s bisher gerade mal für ein „Lebt und arbeitet in Nürnberg und Fürth“ gereicht. Was aber den unersetzbaren Vorteil hat, dass ich regelmäßig mit dem Rad im Pegnitzgrund von Gosten- bis nach Atzenhof und zurück unterwegs bin. Wo es immer viel zu sehen und gelegentlich auch Abenteuerliches zu erleben gibt!
Vier Pfoten auf zwei Rädern
Meine Schwiegermutter sagte es als erste: »Ich trau mich fast nicht, davon zu reden.«
Dabei hatte ich fast genau dasselbe sagen wollen: »Ich weiß gar nicht, ob ich darüber sprechen sollte.«
Erst du – nein du – nein du – nein du – dann gab ich nach. Das Protokoll schreibt nun mal vor, dass die Schwiegermutter am Ende immer Recht bekommt.
Nun, ich hatte einen Hasen gesehen. Im Fürther Wiesengrund, gleich nach der Stadtgrenze, wo der Radweg slalom fährt. »Ja, einen echten Hasen, kein Karnickel, ich kenne den Unterschied«, stellte ich prophylaktisch klar.
»So what?« fragte also meine Schwiegermutter nicht. Aber nur weil sie den Anglizismus nicht kennt. Stattdessen sagte sie: »Na und?«
Da ließ ich die Katze aus dem Sack: »Der Hase fuhr auf einem e-Roller!«

Ja, genau. Auf einem dieser roten, grün-weißen oder Gänsescheiße-gelben Tretroller mit Batterieantrieb, die heutigen Tages in der Stadt kreuz und quer vor den Haustüren, an den Treppen zur U-Bahn, auf Radwegen, Baustellen und Sportplätzen und in Hinterhöfen oder Parks herumliegen, wenn sie nicht längst auf dem Grunde der Pegnitz zu Giftmüll zerfallen.
»Na sowas!« rief meine Schwiegermutter – »das ist ja unfassbar! (dramatische Pause) Ich auch!«
»Wie? Was machst du im Fürther Wiesengrund, wenn ich dort zur Arbeit radele?« wunderte ich mich.
»Neeeeiiinn! Doch nicht das auch. Ich habe auch ein Tier auf einem e-Roller gesehen. Beim Beerensammeln. Tief im Wald. Ein Reh fuhr mir da beinahe über die Füße.«
Nun war ich an der Reihe, den Kiefer herunterzuklappen und den Mund eine Weile offenstehen zu lassen.
Als wir beide uns wieder gefangen hatten, tranken wir als erstes einen Schnaps, dann machte ich mich daran, die Sache im Internet zu erforschen.
Und tatsächlich: in den zurückliegenden Wochen hatten sich die Vorfälle peu-a-peu gehäuft, so dass inzwischen nicht mehr von den üblichen vernachlässigbaren »Einzelfällen«, sondern von einem (Tier-)Massenphänomen gesprochen wurde. Immer mehr vierbeinige Waldeinwohner nutzen e-Roller, die sie am Rand der Großstadt kapern und durchs Unterholz prügeln, bis die Batterie leer ist.
Es stellte sich nach kurzer Zeit – dank einer gründlichen Nutzerbefragung – heraus, dass die Sache wie üblich eigentlich ganz harmlos begonnen hatte.
Ein junges und erwartungsgemäß betrunkenes Pärchen war mit dem e-Roller vom Grünen Markt in Fürth quer durchs Knoblauchsland bis in den Lorenzer Reichswald gefahren, wo kurz vor Heroldsberg die Batterie dreiviertel leer war. In der Meinung, noch genug Strom für Rückweg zu haben, waren sie abgestiegen und hatten ein paar Stunden im Wald mit Machenschaften verbracht, die Pärchen eben so im Wald machen. Als sie zurück zum e-Roller kamen, sahen sie gerade noch ein Reh damit davonbrausen. Es hatte den Code mit dem Gehörn geknackt und ließ das Gefährt schließlich auf einer Lichtung kurz vor Gräfenberg liegen.
Nachdem sich das Phänomen wie ein Flächenbrand in den bundesdeutschen Wäldern ausbreitete, gingen die Wogen der öffentlichen Meinung hoch her. Ultra-Konservative forderten sofort, dass alles, was mit vier Pfoten oder Hufen auf zwei Rädern unterwegs sei, abgeschossen werden sollte, da es nicht gottgefällig sei. Umgekehrt forderte die Lobby der Tierfreunde, dass auch in abgelegenen Waldgebieten Ladestationen errichtet werden müssten, um eine Benachteiligung des hinterwäldlerischen Wildes bei der e-Mobilität auszuschließen. Der ADAC gab eine Presseerklärung heraus, dass zukünftig das Thema »Wildunfälle« völlig neu beleuchtet werden müsse, die AfD warnte vor ausländischem Wild und in den sozialen Medien beschwerten sich die einschlägigen Trolle, dass sich auch viele Radfahrer nicht an die Verkehrsregeln hielten.

Nur die wirklich Betroffenen, die e-Roller-Verleiher hielten sich auffallend zurück. Zum einen hofften sie auf ein gutes Geschäft mit dem stark erweiterten Kundenkreis. Zum anderen jedoch stellte die Bezahlung anfangs ein ziemlich schwieriges Problem dar. Es schien dann aber irgendwie eine Lösung gefunden worden zu sein, über die allerdings beide Seiten hartnäckig schwiegen.
Die Vermutung, dass der Mietpreis in Naturalien entrichtet würde, lag nahe und bald tauchten erste Presseberichte auf, dass etliche Rehrudel und Wildschweinrotten ihre unbeliebten Mitglieder gewaltsam vor die Flinte eines Jägers trieben – Onkel Eberhard, der auf Familienfeiern immer nur schmutzige Witze riss, Großcousine Bambine, die ein schreckliches Lästermaul hatte – um mit dem Wildbret eine Anzahlung bei Lime, VOI, Bolt oder (nomen est omen!) TIER zu leisten.
Dass es ganz unabhängig von diesen vielleicht etwas fragwürdigen Auswüchsen den Tieren Spaß macht, mit den e-Rollern durch die Landschaft zu düsen, kann ich aus eigener Anschauung bezeugen: Der Hase, der mit entgegenkommen war, hatte ein Grinsen im Gesicht, das von einem Löffel zum anderen ging.
Fürther Nachrichten, 17. August 2022
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