Metaphysik am Mittwoch

Eine meiner jüngsten Mittwochs-Kolumnen in den Fürther Nachrichten erschien im Frühjahr 2022. Wie so oft nutzte ich die Gelegenheit, um alte Irrtümer, tiefsitzende Ängste und rätselhafte Phrasen aufzuarbeiten. Bzw. über Kartoffeln nachzudenken.

Das letzte Loch

Nun habe ich keine Angst, dass mir der Himmel auf den Kopf fällt. Dabei ist die Gefahr in den letzten zweitausend Jahren deutlich größer geworden als damals, als Asterix und die tapferen Gallier gegen Julius Cäsar standhielten. Damals gab’s lediglich das Wetter. Heute kann von oben diverses Ungute kommen: Flugzeuge, Spielzeugdrohnen, Raketen, Internetsatelliten, Mikro-Meteoriten, der gefrorene Inhalt von Flugzeugtoiletten.

Letzteres allerdings nur, wenn man meinem Vater Glauben schenkt, der uns Kinder in den 1970ern ausdrücklich vor dieser Gefahr, die im Freien beständig lauerte, warnte. Heute bin ich freilich manchmal gewogen, von einem Missverständnis auszugehen. Ich denke, mein Vater, der in seinem ganzen Leben kein einziges Mal einen Flieger bestiegen hat, ging davon aus, dass die Toiletten in den Passagiermaschinen so funktionierten, wie er selbst sie konstruiert hätte. Also Klappe im Boden wie im Reichsbahnwaggon von 1944.

In der Wohnung, wo ich eine Decke und obendrein zwei komplette Stockwerke über dem Kopf habe, fühle ich mich absolut sicher. Etwas anderes beunruhigt mich allerdings: Ich habe erkannt, dass unsere Wohnung ein Loch hat.

Beziehungsweise, dass eben ein Haus doch etwas verlieren kann, und zwar so endgültig und gnadenlos, dass ich immer ein bisschen Panik in mir aufsteigen spüre, wenn ich in die Nähe dieses Loches komme.

Wieder so eine Sache, bei der man als Kind angelogen wurde. »Ein Haus verliert nichts« behaupteten völlig schamlos und unverdrossen Eltern, Großeltern, Nachbarn, Lehrer, Bauunternehmer, Einbrecher, Politiker – einfach alle.

Die Wahrheit lautet allerdings, dass jedes Haus, jede Wohnung ein Loch hat, ewiglich unverstopfbar, gefährlich, angsteinflößend, grauenerregend. Ein schwarzes Loch wie aus dem Fieber-Alptraum eines Kosmologen. Ein Loch, dem man am allerliebsten niemals auch nur näher als hundert Meter kommen möchte. Was nicht ganz unproblematisch ist, denn handelt es sich doch um den Abfluss der Badewanne.

Klo, Waschbecken und Spüle sind zwar auch ansatzweise bedrohlich, besitzen sie alle auch Abflüsse, durch die ein wertvoller Gegenstand oder ein geliebtes Wesen final verschwinden könnte. Doch diese sanitären Schaffensorte verfügen jeweils über einen Siphon. Eine letzte, halbwegs beruhigende Barriere gegen das endgültige Nichts. Das weiß jeder, der schon mal das U-Rohr unter dem Waschbecken abgeschraubt und gereinigt hat.

Nicht so die Badewanne. Ein Geldschein etwa, der da hineingerät, hört auf zu existieren. Oder eine kleine Badeente. Oder ein kleiner Hund. Oder – falls nicht sowieso das selbe – der Lebensgefährte oder die Lebensgefährtin. Alternativ lediglich der Ehering – schlimm genug.

Das exakte Gegenteil zum Verlieren eines Gegenstandes ist die Entdeckung eines Schatzes. Darüber dachte ich erst vorige Woche nach, als ich das Kartoffelbeet der letzten Saison umgrub. Jeder Kleingärtner weiß, dass man nie alle Knollen findet. Alle Jahre wieder sprießen zwischen dem Gemüse, das aus Fruchtwechselgründen aktuell hier wachsen soll, Kartoffelpflänzchen, ohne dass man diese gezielt gesetzt hätte. Im vergangenen Jahr scheinen wir da überdurchschnittlich unaufmerksam gewesen zu sein. Am Ende hatte ich eine ganze Abendmahlzeit für drei Personen beieinander, tadellose Erdäpfel ohne Wurm oder Frostbeule.

Ich freute mich sehr darüber. Nicht wegen der winzigen Ersparnis, die vielleicht ein Pfund unverhofft geborgener Kartoffeln ausmachen mag. Sondern vielmehr empfand ich dasselbe Glück wie als Kind, wenn man im Freibad eine in der Rückgabeklappe des Schließfaches vergessene Mark fand. Desgleichen vergessenes Wechselgeld im Zigaretten-Automaten oder im elektromechanischen Fahrkartenverkäufer.

Dinge zu finden – einfach so, ohne Vorwarnung, das bereitet große und unverfälschte Freude. Lächerliche Summen, aber höchstes Glück.

Womit ich den Bogen schlagen will. Selbst wenn jemand irrtümlich meinen könnte, dass ich mich vollkommen grundlos(!) vor dem Abfluss der Badewanne fürchte, will ich darauf hingewiesen haben, dass jemand, der etwas verliert, damit anderen Menschen zur unverhofften Freude gereichen kann. Der Verlierende muss es nur – und das ist der springende Punkt, über den nachzudenken ich die geschätzten Leserinnen und Leser ermuntern möchte – auf die richtige Weise tun. Egal was, Hauptsache, irgendjemand kann es wiederfinden.

Freunde der Spitzfindigkeit könnten nun ins Feld führen, dass die genannten Kartoffeln und der Badewannenabfluss sehr wohl gut zusammenpassen könnten, insofern man beim Abriss des Hauses, falls der in einer nicht allzu fernen Zukunft erfolgt, am Kanalanschluss im Keller eine schöne Portion… aber genug der Worte verloren! Ich finde, ich habe jetzt gesagt, was ich für dieses Mal zu sagen hatte. Für einen Autor ein wirklich schöner Fund!

16. März 2022


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