Filmreif zum Sterben
Es hatte die Kamerafahrt seines Lebens werden sollen, und in einer gewissen Hinsicht wurde sie es auch. Nur etwas anders als geplant.
Er hatte insgeheim bereits mit einer goldenen Palme oder einem Oscar geliebäugelt, als es nach der gefühlt sechzigsten Probe endlich perfekt lief: Während das Licht geradezu unerträglich langsam heller wird, beginnt die Einstellung mit der Großaufnahme einer Zehe. Einer Frauenzehe an einem Frauenfuß, zu dem sich, während die Kamera behutsam rückwärts schwebt, ein Männerfuß, dann eine behaarte Wade, dann noch ein wohlgeformtes weibliches Knie, und immer so weiter gesellen, bis der Zuschauer erkennt, dass er in niedriger Höhe über ein eng umschlungenes Liebespaar schwebt, Mann und Frau buchstäblich innigst verknotet in einem makellos weißen Bett. Das Auge des Betrachters gleitet in sanftem Schwung über die Körper hinweg, dabei die Kurven von Ellenbogen, Bauch, Hüften, Lenden, Schultern, Nacken und Kiefern sensibel nachziehend bis zu den Mündern der Liebenden, deren feucht glänzender Kuss das Schlussbild der Einstellung komplett ausfüllt.
Dem Regisseur fiel die Last eines ganzen Gebirges von den Schultern, als der Kamera-Assistent den erlösenden Ausruf tat – „Cut!“ -, und sogar sein Geliebter, ein blonder Jüngling, der sich beim Kulissenbau nützlich machte, lächelte. Obwohl sie ja gestern Abend einen üblen Streit gehabt und den ganzen Tag über noch kein Wort miteinander gewechselt hatten.
Der berühmte Filmemacher blieb an diesem Lächeln hängen, erkannte plötzlich, das dies kein freundliches, sondern ein hasserfülltes, triumphierendes Lächeln war, und es dauerte nur kurz, bis die hysterischen Schreie der Schauspielerin in sein Bewusstsein drangen. Als sie die Augen wieder geöffnet hatte, hatte sie in die hervorquellenden Augen ihres Filmpartners geblickt, den eine dünne Drahtschlinge um den Hals wie ein Kaninchen erdrosselt hatte, während der mit einem teuflischen Mechanismus versehene Hubwagen der Kamera einmal um sie herum gekreist war.
Blitzartig verstand er: Einem Narzissten wie seinem jungen Gespielen zu sagen, er sei nur der zweitschönste Mann am Set, war ein tödlicher Fehler gewesen.
ars vivendi Krimikalender für 2018, ISBN-13: 978-38691-38039 (2017)
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