Eine kleine Story, die 2020 in den Fürther Nachrichten in der literarischen Mittwochskolumne „Fürther Freiheit“ erschien. Nahezu autobiographisch natürlich!
Wie der Wentschodentscho ins Dorf kam
Wer war zuerst da: der Weinberg oder die Weinbergschnecke? Bei uns im Dorf gab es keine Weinberge, aber es gab Weinbergschnecken. Es gab so viele davon, dass zweimal im Jahr der Wentschodentscho ins Dorf kam und säckeweise Weinbergschnecken kaufte. Die wir Kinder sammelten und in dicken weißen Plastikbeuteln, die damals die große Neuigkeit im Spar-Laden waren, zum Wentschodentscho brachten, der es sich in der Bushaltestelle gemütlich gemacht hatte und auf seine kleinen Zuträger wartete. Es gab 50 Pfennig für das Kilo, bei zehn Kilo noch zehn Pfennig extra. サWenn schon, denn schonォ, sagte der Wentschodentscho dazu und warf die Tüten in den Schubkarren, mit dem er zu Fuß aus der Kreisstadt das Tal herauf gewandert war.
Wir Kinder hatten dank des Wentschodentschos alle eine schöne Kindheit. Von dem Schneckengeld kauften wir Süßigkeiten, meistens Weingummis, und im Spar-Laden lasen wir die Comics direkt im Zeitschriftenständer, bis uns der Spar-Mann auf die Straße jagte. Wir waren jeden Donnerstag dabei, wenn beim Metzger das Schwein geschlachtet wurde, und zankten uns darum, wer die Augen auf den Misthaufen werfen durfte. Weil dann die Hühner wie die Verrückten her gerannt kamen, um in die Augäpfel zu picken.
Und ich durfte die Bibel tragen, wenn der Opa meines Freundes Martin im Wald tote Katzenjunge begrub. Martins Opa trug den blutigen Kartoffelsack, der vorhin noch am Ast des Apfelbaum gehangen hatte. Darin hatten die überzähligen Kätzchen gezappelt, bis Martins Opa mit dem Jagdgewehr abdrückte. Wir gruben ein Loch für den Sack und der Opa nahm die Bibel in die Hand und sagte ein paar Psalmen auf. Ich wusste, dass er aus dem Gedächtnis sprach, denn er hielt das Buch auf dem Kopf und hatte so viel Tränen in den Augen, dass er sowieso nicht hätte lesen können, selbst wenn er es je richtig gelernt hätte.
Für den Martin endete die Kindheit recht unschön, als er unten am Fluss eine alte deutsche Panzergranate aus dem Schlamm… Iwo, stimmt gar nicht! Das war nur ein Spaß, in Wirklichkeit fand er die Reste eines russischen Spionagesatelliten droben, auf der Hochebene, wo unsere Väter jedes Jahr die Christbäume aus dem tief verschneiten Forst stahlen. Martins Vater verbot ihm, auch nur mit einer Menschenseele über die Trümmerstücke zu reden. Aber mir erzählte er es, denn ich konnte ihm auch ein Geheimnis verraten. Ich wusste nämlich von meinem Vater, dass der Wentschodentscho ein russischer Spion war, der für die Kommunisten auskundschaftete, wie gut man mit einer Schubkarre auf unseren Straßen voran kommen konnte. Allerdings hatte der Wentschodentscho zu diesem Zeitpunkt bereits Martins Mutter für den Geheimdienst angeworben und floh bald darauf mit ihr nach »drüben«, wie sich die Leute an der Kasse beim Spar zuflüsterten. Wahrscheinlich musste deshalb James Bond nie zu uns ins Dorf kommen. Den hatte ich im Fernsehen gesehen und mir seitdem ganz arg gewünscht, er würde über unserem Haus mit dem Fallschirm abspringen und mich in seinem Sportwagen voller versteckter Waffen mitnehmen, um die feindlichen Agenten zu jagen, die sich bestimmt in der Bärenhöhle verbargen.
Martins Vater nahm die ganze Sache nicht allzu schwer. Er beschloss, nicht mehr zu arbeiten und aus jedem Tag ein Fest zu machen. Meine Eltern sprachen des öfteren von etwas, das »Sozialhilfe« hieß, aber so, als ob es eine ganz schreckliche Sache gewesen wäre. Dabei durfte ich, wenn ich Martin besuchte, immer an einer Bierflasche probieren. »Pfui Spinne«, rief ich und schüttelte mich, weil dieses Getränk, das Martins Vater sehr gerne mochte, so bitter war. Der Vater lachte dann, ging zum Schrank und holte eine Pistole hervor. »Hier«, sagte er, »wollt ihr vorher nicht noch einen Schluck Zielwasser?«
»Nein danke, ich fürchte, mir ist es heute noch etwas zu früh für Schnaps«, antwortete ich höflich. Dann spazierten Martin und ich mit der Pistole hoch in den Wald.
Martin wollte zuerst auf Schnecken schießen. Ich sagte, ich würde ihn verraten. Bei wem wusste ich selber nicht, vielleicht bei der Lehrerin oder dem Spar-Mann, aber Martin ließ es auch einfach so bleiben. Wir zielten auf Tannenzapfen. Als es siebzehn zu siebzehn stand, ging uns die Munition aus. Gut so, denn meine Mutter wartete sicher schon zu Hause mit dem Mittagessen.
Auf dem Rückweg gab Martin zu, dass er froh war, nicht auf Schnecken geschossen zu haben. Aber es wäre lustiger gewesen, wenn der Wentschodentscho wäre dagewesen, erklärte er. Ich verstand nicht recht, was er meinte, aber nachfragen wollte ich dann auch nicht. Er hätte mich am Ende noch für dumm gehalten.
Unsere behütete Kindheit liegt inzwischen lange Zeit zurück. Den Wentschodentscho gibt’s natürlich nicht mehr, aber die Weinbergschnecken haben durchgehalten, es gibt sie heute noch. Mit Langsamkeit kommt man offensichtlich auch weit, sehr weit sogar.
Fürther Nachrichten, Ausgabe vom 9. September 2020.
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