Frischgebackener Eisbergvater

Inspiriert von Pressemeldungen, die damals über das Zerbrechen oder Abdriften riesiger Trümmer des antarktischen Einschildes berichteten („Eismasse … siebenmal so groß wie Berlin“). Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sowie glaziologischen Wesen sind, wenn überhaupt, vollkommen unbeabsichtigt. Aus meiner heutigen Sicht interessant: schon 2017 scheint das Thema „Impfen“ aktuell gewesen zu sein.

Meine Frau ist ein Gletscher. Vielleicht kennen Sie noch andere Schelfeismütter in ihrem eigenen Bekanntenkreis. Dieser Tage sind wir Eltern geworden. Beim Kalben gab meine Frau schreckliche Laute von sich, Hunderte Wissenschaftler begleiten die Geburt mit Sensorsystemen, Satellitenbildern und Selfies im Schnee. Der Deutschlandfunk rief an, wollte ein Interview mit mir, fragte, wie ich mich jetzt fühle, als Eisbär-, Entschuldigung: Eisbergvater. Ich sagte, ich fühlte mich so wie jeder andere Vater, der einen Billionen Tonnen schweren Eisberg gezeugt hat. Der Mutter ginge es, wie aus dem Weltraum deutlich sichtbar sei, ebenfalls den Umständen entsprechend gut.

Den emotionalsten Augenblick erlebte ich, als mich die Hebamme, ein ehemaliger Kapitän der sowjetischen Kriegsmarine, aufforderte die »Nabelschnur« zu durchtrennen. Er nahm meine Hände und legte sie an das Steuerrad des Atomeisbrechers, woraufhin ich das Schiff auf die letzte Eisverbindung krachen ließ und unseren Sohn endgültig ins Leben entließ.

Ich wünsche mir für seine Zukunft nur das Beste, dass der Kleine wächst und gedeiht. Auch bin ich ein bisschen besorgt, wie alle jungen Väter, ob wirklich alles gut gehen wird. Hauptsache, so wurde mir von anderen Eltern gesagt, er schläft so früh wie möglich nachts durch, der kleine Larsen. Damit ich und vor allem seine Mutter uns aufwärmen können. Die ständige Unterkühlung ist das, was den Eltern eines Frischgefrorenen am meisten zu schaffen macht. Immerhin erfahren wir viel Unterstützung seitens der Paten, dem Alfred-Wegener-Institut und der Aberystwyth University in Wales – Onkel Alfi und Tante Abu, wie wir sie nennen –, die beide dicke Forschungsschiffe in die Neugeborenenstation am Königin-Maud-Land geschickt haben.

Sie beruhigten uns schon im Vorhinein, dass wir nicht bei jeder warmen Pfütze zum Klimatologen rennen müssen, das sei ganz normal bei kleinen Eisbergen. Darüber, welche Kinderschutzimpfungen wir zulassen wollen, habe ich schon während der fünfzehn Jahre Schwangerschaft mit meiner Frau gestritten. Sie will auf keinen Fall etwas von der Geopharmamafia, weil sie glaubt, dass deren Impfstoffe später Gefrierbrand und Hagelschauer auslösen können. Ich hingegen halte ja einen Schutz gegen Blaufieber, Schmelzsucht und Keuchhusten für absolut notwendig. Aber gut. Bis der Kleine erst einmal bis zum Hort am Wendekreis getrieben sein wird, wo er auf andere Eisbergbabies trifft, haben wir noch Zeit.

Am meisten freue ich mich auf den ersten Zoobesuch mit unserem Süßwasserschatz. In Sydney vielleicht, dort verspricht man Barrierefreiheit auch für »etwas größer geratene« Besucher. Ich werde ihm die Königspinguine zeigen. Und das erste Familienfoto schießen. Hoffentlich schaffe ich es, dass alle Viecher gleichzeitig in die Linse gucken, ehe wir das komplette Hafenbecken geflutet und die halbe Stadt platt gewalzt haben werden.

Ob meine Frau noch ein zweites Mal kalben wird, kann ich übrigens noch nichts sagen. Wir müssen sehen wie sich unser Sexualleben entwickelt, jetzt, wo wir unser Leben zu dritt führen und jede Nacht ein hundertfünfzig Kilometer langer Wonneproppen zwischen uns kuschelt.

Erschienen in der Rubrik „Die Wahrheit“ in „die tageszeitung“, Ausgabe 21. Juli 2017


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