Am seidenen Schnürchen

Schließlich dann 2025 der erste Preis beim Wettbewerb des AVF zum Thema „Vergessen“. Wer diese Kurzgeschichte sowie 29 weitere, darunter die anderen preisgekrönten Texte auf Papier und in einem Stück zwischen zwei Buchdeckeln lesen möchte, bekommt die Anthologie problemlos bei der edition promenade aus Fürth (generell eine Empfehlung). Es geht im Wesentlichen um ein paar größere Themen der Gegenwart. Die Handlung ist freilich rein fiktiv, nicht wahr?

Er war bereits überfordert, als er am Morgen erwachte. Viel zu früh, nach nicht mehr als drei Stunden Schlaf. Sinnlos, auch nur eine Minute länger liegen zu bleiben. Er hatte nur noch ein Ziel: diesen Tag hinter sich zu bringen. Den Tag der feierlichen Inbetriebnahme, des großen Presseempfangs, den Tag der Tage. Heute galt es, dieses Jahrhundertprojekt abzuschließen, das er ziemlich genau fünf Jahre lang geleitet hatte und das weltweit für Aufsehen sorgte. Seit Monaten zu wenig und wenn überhaupt schlechter Schlaf. Malträtierende Träume voller grotesk-bedrohlicher Bilder, gequältes Wälzen auf dem Laken, verbissene Ringkämpfe mit den Kissen. Seine Frau war längst ins Gästezimmer umgezogen, ganz pragmatisch, denn sie wusste, dass wirkliche Nachtruhe für sie beide erst nach Abschluss des Irrsinns einkehren würde.

Er hatte mit nicht wenig Aufmerksamkeit gerechnet, so dumm war er ja doch nicht. Dass ein oder zwei der Kameras ausschließlich dafür bezahlt wurden, in jeder Millisekunde Sprache, Mimik, Gestik und Körperhaltung des Ministerpräsidenten festzuhalten, hatte er auch erwartet. Aber die unglaubliche Anzahl an Fotografen, die sich im Hof der Nürnberger Kaiserburg versammelt hatten, versetzte seiner Selbstsicherheit einen Schlag.

Etwas brandete in ihm an, er spürte es und konnte sich dennoch nicht darum kümmern, nicht jetzt, nicht hier, mitten während der feierlichen Eröffnung, die in einer Jungfernfahrt gipfeln sollte. An der nicht nur der bayrische Ministerpräsident und der Nürnberger Oberbürgermeister, sondern auch er selbst teilnehmen würde. Ihm wurde mit jeder Minute immer klarer: Er hatte etwas vergessen. Etwas wichtiges. Etwas entscheidendes sogar. Nur was?

Eine Drohne surrte heran, der Wirtschaftsreferent wies auf einen gewaltigen Flachbildschirm, der am Fuße des Sinwellturms stand und auf dem die Luftbilder der fliegenden Nervensäge erschienen. Dieses im unangenehmsten Intervall des Frequenzspektrums sirrende Fluggerät folgte dem glänzenden, sich in einem perfekten Bogen bis in die Innenstadt schwingenden Seil, das aus tausenden Stahlfäden gewickelt und so dick wie ein prächtig entwickelter Kinderarm war. Hier entlang würde in wenigen Minuten die Reise gehen.

Plötzlich, viel zu früh wie ihm schien, waren alle Begrüßungsworte gesagt, etliche vor Technologiebegeisterung triefende Reden gehalten, die Zeremonie am Höhepunkt angelangt. Der linke Schuh des Bürgermeisters bewegte sich wie in Zeitlupe zur kurzen Einsteigsleiter, die Sohle setzte hart auf dem geriffelten, kleinteilig spiegelnden Blech der ersten Stufe auf. Er selbst kletterte direkt danach in die Kabine, konnte dabei, als hätte man ihn insgeheim hypnotisiert, den Blick nicht mehr von dem orange glänzenden Oberleder des Bürgermeisterschuhwerks wenden. »Größe 48 mindestens«, dachte er irrlichternd, während der massige Riesenkörper des Landesvaters von hinten heran- und ihn in die Gondel hineindrängte.

»Überprüfen«, dachte er, »War da nicht irgendetwas zu überprüfen gewesen?«

Das Gefühl, von einer übermenschlich kräftigen Hand in den Bauch gestoßen zu werden. Hitze wie aus einem kochenden Wasserkessel raste seine Wirbelsäule aufwärts, in den Nacken, wo sich seine Haare sträubten. Ein Druckgefühl über den Augen schwoll an, doch das Unwohlsein ließ wieder nach, ehe die Panikattacke ihren Höhepunkt erreichte. Die nächste Welle, das wusste er, konnte ihn zu Boden schmettern.

Als letztes bestieg die Kabine ein kurzer, kompakt gebauter Herr mit grauen Bartstoppeln und Glatze, gewiss schon über siebzig und pausenlos redend. Dieses war der Pressevertreter, der per Los dafür auserwählt worden war, die Honoratioren auf der ersten Fahrt begleiten zu dürfen. Für den Alten sicherlich der Zenit einer an Sensationen nicht gerade überlasteten Lokalreporter-Karriere.

Der Ministerpräsident sah verdrießlich aus dem Seitenfenster. Nirgendwo eine einzige Kamera, nicht einmal die Drohne interessierte sich für ihn, sein Aufenthalt in dieser Blechkiste war gänzlich nutzlos, da nicht auf instagram oder facebook sichtbar. Und der katzbuckelnde Alte bequatschte ihn pausenlos.

Ein Ruck, ein elektrisches Surren, der Boden begann zu schwanken, die Gondel sauste los hinab ins Tal der Pegnitz. Die allerdings aus diese Perspektive zwischen den wie Bauklötze übereinander gehäuften Häusern nur an zwei oder drei winzigen Flecken zu sehen war.

Weit nach Mitternacht, nach unzähligen Tagen ununterbrochenem Stress, nur noch eine Haaresbreite vom körperlich-geistigen Zusammenbruch entfernt – da hatte er begleitet lediglich vom leitenden Ingenieur die ausgeklügelten doppelt und dreifach redundanten Sicherheitsmechanismen geprüft, jene vollautomatischen Bremsvorrichtungen, die, das stand nun einmal unverrückbar fest, nie und nimmer versagen durften. Und auch nicht konnten, wenn, ja wenn jeder Sicherungsbolzen und jeder Splint an seinem Ort… vor allem nachdem sie herauszogen, begutachtet, die Federn fest angezogen… seine Wahrnehmung geriet ins Stocken. Abgehackte Bilder der Welt ruckelten wie in einem verklemmten Dia-Projektor an seinem Bewusstsein vorbei. Die Realität hatte gleichsam zu stottern begonnen. Ganz im Gegensatz zur der Kabine, die mit erstaunlich harmonischen Tönen immer schneller am Stahlseil entlang glitt.

»Das geht ja ganz schön flott«, witzelte der Bürgermeister, der jedoch die Besorgnis, die er offenbar verspürte, nicht restlos aus seiner Stimme heraushalten konnte. Daran änderte auch nicht der gepresste Lacher, den er hinterher schickte, während seine Augen hektisch von links nach rechts sprangen, wo sich ein atemberaubendes Panorama auftat. Vom Burgberg führte das Seil am Fembohaus vorbei, zwischen Altem Rathaus und St. Sebald mit den prunkvollen Doppeltürmen hindurch zum Hauptmarkt, nahezu exakt über den schönen Brunnen hinweg, wo das Seil seinen tiefsten Punkt erreichte – wenn die Technik nach Plan funktionierte.

Links tauchte, das vibrierende Plexiglasfenster komplett ausfüllend, die Frauenkirche auf. Vor nicht einmal fünf Minuten war das weltbekannte Männlein-Laufen zu Ende gegangen, der Hauptmarkt dicht gepackt mit Menschen, Dutzende Touristengruppen standen wie Kompanien unter der Führung ihres jeweiligen Tour-Guides bereit. Japaner, Amerikaner, Spanier, Franzosen – die Saison erreichte in diesen Tagen ihren Gipfel, und irgendjemand vom Stadtmarketing hatte sich das so überlegt, dass man abwarten wollte, bis das Glockenspiel gerade geendet hätte, um genau in diesem Moment mit der silbern in der Sonne blitzenden Gondel »Fankonia One« über die staunenden Heerscharen hinweg zu schweben.

Der Ministerpräsident warf einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr. Nicht viel mehr als eine halbe Minute hatte die Fahrt bisher gedauert, wie im freien Fall flog ihnen der finale Knick in der Streckenführung entgegen, schräg über der Kaiserstraße, wo ihre Bahn einen eleganten Bogen hinauf zur Lorenzkirche nehmen würde, nein: müsste… – der Wind pfiff plötzlich scharf durch eine Ritze, das Stahlseil ächzte voller Schmerz wie eine eingeklemmte Katze.

Wieder spürte er das heiße Drücken unter dem Zwerchfell, wieder stieg eine kochende Flüssigkeit seinen Rücken empor, überwand die Schwelle zum Nacken, umfasste seinen ganzen Kopf, bedeckte wie mit glühenden Handflächen seine Ohren, seine Stirn, seinen Mund – da lachte er laut auf, registrierte die irritierten Blicke des Ministerpräsidenten, des Oberbürgermeisters, des Rentner-Reporters, der mit einem Mal bleich im Gesicht, ganz grün um die Nase geworden war – im wahrsten Sinne des Wortes »siedend heiß« fiel ihm in diesem Sekundensplitter ein, was er vergessen hatte. Die Sicherungsbolzen.

»Fuck! Verdammte Fuck-Scheiße!« dachte er und schloss die Augen.

»Wie bitte?« fragte der Ministerpräsident. Hatte er tatsächlich laut gesprochen? Aber selbst wenn – was spielte es noch für eine Rolle? Jetzt kurz vor dem Aufprall, in den letzten Sekunden seines Lebens.

Das Surren der Gondel hatte sich in ein Zischen gesteigert, die Kabine schoss mit mörderischer Geschwindigkeit auf ihren 37 kleinen eisernen Rädchen Richtung Erdmittelpunkt – er kannte die Zahl so gut, als hätte er sie sich auf die Stirn tätowieren lassen.

Fester presste er seine Augen zu, sein Magen sackte ab, irgendetwas, das aus Edelstahl bestand, kreischte erneut laut auf. »Hoppla!«, hörte er die Stimme des Rentner-Reporter ausspucken, und irgendwie erfüllte ein warmer Trost seine Seele, der sich daraus schöpfte, dass nicht nur die letzte Sekunde seines Lebens, sondern die von wahrhaft bedeutenden Personen, wie dem Landesfürsten angebrochen waren. Die Super-Power des Todes, zu allen Zeiten schon und immer noch, hier war sie: vor ihm sind alle gleich.

Doch im nächsten Moment ertönte eine künstliche Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher: »Endstation, die Fahrt endet hier, wir bedanken uns für ihre Fahrt mit den Nürnberger Schwebebahnbetrieben.«

Die Kabine pendelte leicht aus, rutschte im Kriechtempo zur Aussteigestelle auf dem ehemaligen Kaufhofgebäude. Das erste Blitzlicht zauberte dem Ministerpräsidenten ein Siegerlächeln ins Gesicht, während er winkend der deutschlandweit ersten innerstädtischen Seilbahn entstieg.

Jetzt erst spürte er, wie ihm sein durchgeschwitztes Hemd am Rücken klebte. Er trat einen Schritt zur Seite, da er merkte, wie die allgemeine Aufmerksamkeit abflaute. Jungfernfahrt beendet, alle Bilder, die hatten gemacht werden müssen, im Kasten, das Publikum im Begriff, sich zu zerstreuen. Reflexartig griff er in seine Hosentasche, zog sein topmodernes zusammenklappbare SmartPhone, dessen Existenz ihm völlig entfallen war. Bereits der Sperrbildschirm meldete fünf unbeantwortete Anrufe und 23 neue Meldungen.

»Du schuldest mir ein Bier oder besser zwei«, stand gleich in der ersten Nachricht des Oberingenieurs. »Oder hast du eiskalt damit gerechnet, dass ich heute Vormittag nochmal alle Schrauben festziehe?«


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert