2020 erschien eine weitere Anthologie des AutorenVerband Franken e.V., die Texte zum übergeordneten Thema „Woher der Wind weht“ versammelte.
Im Grunde passiert so etwas andauernd. Einfach so, ohne Vorwarnung. Dass jemand erst Jahrzehnte später versteht, wie falsch er sich aufgeführt hat. Weil inzwischen geistig weiter. Erfahrener. Reifer. Weil inzwischen Dinge kapiert, die zu kapieren schlichtweg gedauert hat. Und dann, die Blickrichtung verschoben und der Vorhang zur Seite, erkannte ich, wie alles wirklich und wie dumm mein Benehmen gewesen war, wie abstoßend.
Du hast mich damals schon so gesehen, aber ich war blind, ich war blinder als blind gewesen. Mir klebte der Sand in den Augen, den mir der Wind ins Gesicht geblasen hatte. Es dauerte diese vielen Jahre, bis ich endlich die Lider wieder aufbekam.
Denn ich sah dich wieder. Die Frau am anderen Ende des Raumes. Hier im Café, hier kam ich zu mir, hier schienen meine Augen unvermittelt zurückzufinden zu ihrem normalen Funktionswerk.
Ich hatte nichts Bestimmtes vorgehabt an diesem Tag, als ich das Caféhaus in der Innenstadt betrat, gleich bei der Frauenkirche. Viele Touristen verschlug es hier herein. Menschen aus den unterschiedlichsten Winkeln der Welt, die in Dutzenden verschiedener Sprachen gelesen hatten, dass man unbedingt hierher fahren müsse, einmal im Leben in diese alte Deutsche Reichsstadt. Heimat des weltberühmten Malers, Hort kultureller Schätze und Standort sagenhafter Architektur. Aufgeschlossene, interessierte Menschen kamen hierher. Menschen, die man beobachten konnte, um einen Nachmittag im Kaffeehaus zu vertrödeln. Dann erspähte ich dich.
Mein erster Gedanke: „Ist sie es wirklich?“
Es war so lange her. Doch meine Zweifel verwehten im Nu. Du musstest es sein. Sabine Holtermann. Biene. Meine Biene.
„Dreißig Jahre… wir können nicht stehen bleiben, nicht in der Zeit…“ Meine Gedanken galoppierten davon wie ein aufgeschrecktes Reh, denn ein Wind hatte zu wehen begonnen, von dem Moment an, in dem ich Sabine erspähte. Ein Wind, der nur mir ins Gesicht blies. Alte Zeit wehte durch einen Spalt herein, als hätte jemand die Tür zum Keller, wo die Vergangenheit lagerte, nicht ordentlich geschlossen. In meinen Ohren wuchs ein Rauschen an, aus dem sich zwei Stimmen formten …
„Kommst du mit zur Düne?“, fragte ich. Ich war siebzehn Jahre alt. Hatte unendlich lange darüber nachgedacht, wie ich sie ansprechen sollte. Zwei ganze Wochen lang. Für mein damaliges Empfinden unendlich lange. Wir saßen seit sechs Jahren in derselben Klasse, waren täglich denselben Lehrern ausgesetzt, hatten jedoch noch nie mehr als ein knappes Hallo ausgetauscht, hatten keine gemeinsamen Themen. Doch dann war das kindliche Desinteresse plötzlich verflogen.
„Düne? Welche Düne?“
Volltreffer! Ich hatte ihre Aufmerksamkeit. Ich spannte mein lässigstes Grinsen auf und sah mich neben ihr im Wald stehen und mit großartiger Geste die Düne präsentieren.
„Düne – Biene, Biene – Düne“, würde ich witzeln und dann ausführlich erläutern, dass der Landstrich östlich von Nürnberg vor langer, langer Zeit eine Sandwüste gewesen sei. Nachdem das Meer ausgetrocknet war, dessen Buchten heute als kalkige Riffe im oberen Pegnitztal die Stadtbewohner zum Wandern und Klettern anlockten. „Des Reiches Sandkasten“ hatte mein Großvater die Gegend genannt, während er mit mir durch den Steckerleswald gestreift war und die alte Landschaft mit Worten gemalt hatte.
Das alles ging mir so deutlich durch den Kopf, ich meinte, danach greifen zu können. Die Tasse Kaffee auf dem Tisch hatte ich vergessen, die Touristen und das ganze Lokal, das regnerische Wetter und jede einzelne verdammte Minute der letzten dreißig Jahre. Alte Bilder erstanden stattdessen in mir auf wie aus tiefer Verschüttung. Ich vermeinte, den Geruch der staubigen Luft in der Nase zu spüren, das Harz der Kiefern, Moos, modernde Nadeln, süßliche Beeren, bittere Blätter.
Kein Zweifel – da drüben saß die Frau, die ich seit drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte, nachdem ich ein paar Wochen lang wirklich alles im Leben hingegeben hätte, sie nur küssen zu dürfen. Wie leichtfertig man doch ist, als verliebter junger Mensch! Mein Abitur hätte ich für sie geschmissen, meine Gesundheit der Fremdenlegion verpfändet, wäre hundert Stunden ununterbrochen hinter dem Steuer eines rostigen Traktors gesessen und hätte einen mit Atomraketen bewehrten Geldtransporter mit der bloßen Hand überfallen.
Am liebsten hätte ich zu ihr gesagt: „Bis heute weiß ich nicht, warum damals nix draus wurde, Biene. Zwischen dir und mir. Irgendetwas klemmte – bei mir oder bei dir, ich kann es nicht sagen. Ich bin kein Liebesmechaniker, der auf Anhieb checkt, wo es hakt, wenn die Kundschaft vorgefahren ist und ratlos auf den stotternden Motor deutet.“
Aber ich hätte lügen müssen. Denn damals war alles logisch und folgerichtig abgelaufen. Beziehungsweise eben nicht. Und ich kam hinterher fast um vor Scham, fühlte mich wie ein dreimal überfahrener Fuchs auf der Autobahn. Ich hatte mich dermaßen danebenbenommen, dass die Birken, die im Kreis rings um die Lichtung standen, beinahe gekotzt hätten. Kotzende Bäume – ja.
Dabei hatte es ihr anfangs dort gefallen auf der Düne. Die Sonne schien, ein frisches Lüftchen wehte, niemand sonst am Start – alles cool. Wir zwei allein, allein zu zweit. Sobald man sich hinter den Kamm des Sandhaufens duckte, wurde es kuschelig warm.
Doch kreisten kleine Fliegen über den hellgrau-gelben Körnern. Ich meine: Wind macht mich sowieso extrem hibbelig. Gereizt werde ich, wenn mir die Luft um die Ohren pfeift, wenn der Sturm an meinen Haaren zerrt. Massiv gereizt, heißt: fiebrig angespannt. Und wenn eine Feder, die bis kurz vors Zerbrechen gespannt ist, aus der Verankerung rutscht, dann… wissen wir alle. Wind, Sand und Fliegen – eine scheiß Mischung.
Das Lösungswort heißt freilich „Hormone“. Ich hatte eine Überdosis, schlicht nicht auszuhalten. Sie lag neben mir auf dem Batiktuch, streckte die nackten Füße in die Luft, hatte unter ihrem ärmellosen Oberteil nichts weiter an. So eine Mischung aus Bluse und Badeanzug, durch die man mehr ahnte als da tatsächlich war. Und ich: Triebstau. Kein Wunder.
Wie immer gab ein Wort das andere, aber freilich, an „der Sache“ wurde vorbeigeredet. Wind, Sand – Strand. Erinnerungen an eine Reise ans Meer, der Duft des Waldes hier, der so ganz anders ist als dort, an der See. Die Möwen, die sich für Franken nicht interessieren, die Muscheln, die es hier vor Äonen einmal gab, als die Gegend noch unter tiefen Wassern lag, der Burgberg eine Insel, an der sich die Wellen brachen und den Stein zu Staub zermörserten.
Bis der feine Sand zu kratzen begann. Der Sand, der in jede Falte dringt, der in die Schuhe, in die Haare, hinter den Hosenbund kriecht. Und ja, das Gespräch stieg tiefer und tiefer, bis wir doch beim Sex angekommen waren. Theoretisch freilich. Ich fragte, ob sie, doch sie antwortete nicht. Das wäre doch super, sagte ich, jetzt hier…
Erst lachte sie, dann sah sie mir tief in die Augen. Da verschwand das Lachen aus ihrem Gesicht.
„Echt nicht?“ stammelte ich noch, aber nur, um meine Degradierung zum größten Volltrottel der Metropolregion zu komplettieren.
Am nächsten Tag ging ich über den Pausenhof als liefe ich barfuß über einen See von Glassplittern. O Gott, was schämte ich mich!
Ich hatte das Offensichtliche getan, was man unter allen Umständen nie tut. Ich hatte sie kurzerhand gefragt, ob sie dort auf diesem sandigen Abhang mit mir schlafen wolle. Vermutlich hatte ich schon gewisse Anzeichen der Bereitschaft entwickelt, nein: nicht vermutlich, sondern es war so und nicht anders. Den Kopf auf den Ellenbogen gestützt, hatte ich umständlich mit der freien Linken die Beule in meiner Hose verdeckt, was natürlich alles noch schlimmer machte, und als sie aufgesprungen und in einem gezwungen lockeren Tonfall gerufen hatte, dass sie genug habe vom Wind und dem Sand und der scheuernden Hitze und nun zurück radeln werde, und ob ich nicht noch bleiben wolle, da hatte ich gewartet, bis das Klappern ihres Schutzblechs zwischen den Bäumen verscheppert war, ehe ich händisch vollendete, was sich … egal.
Ich musste sofort raus aus diesem Café. Die Bedienung jedoch nirgends zu sehen. Zigarettenpause, was weiß ich. Kurz zog ich in Erwägung, die Zeche zu prellen. Nur weg hier! Der Schweiß rann mir den Rücken hinab, mein Herz klopfte so laut, das ich zum Nachbartisch spähte, ob man dort zuhörte. Dann tauchte der junge Mann auf, der mir den Kaffee serviert hatte, ich hob die Hand, wollte kein lautes Wort sprechen, weil sie vielleicht meine Stimme… da hatte sie mich gesehen. Sabine. Sie erkannte mich sofort.
„Nein, das gibt’s doch nicht!“ Sie stand auf, zwei Schritte, der junge Mann wieder außer Sicht, keine Möglichkeit mehr zu entkommen.
„Hei!“
Lächeln. Nun – ich lächelte. Mühsam. Sie…? Sie strahlte.
„Hab erst gestern an dich gedacht. Mensch, was ein Zufall!“
Zufall, ja, aber das änderte nichts. Die Vergangenheit war erwacht, ob ich wollte oder…
„Ja. Lange her…“, krächzte ich.
Ihr Lächeln wurde einen Tick breiter. Unbekannte Fältchen um den Mund, in den Augenwinkeln. Ein Hauch von Lippenstift, an den Schläfen der graue Haaransatz, der Rest gefärbt. Tiefschwarz, war sie nicht rotblond gewesen damals? Aber ihre Augen, die graugrüne Farbe oxydierten Kupfers: Ich war sofort wieder verliebt, mein Gesicht glühte.
Das Lächeln erlosch mit einem Schlag. Wie damals. „Du hast mich nicht mehr angesehen, am nächsten Tag. Weißt du? Das war so seltsam… Nur einmal zu fragen hättest du gebraucht, einmal noch, dann… Ich hab das nie verstanden.“
Ich wusste darauf keine Antwort. Überhaupt keine. Schulterzucken meinerseits.
„Ich war sauer auf dich. Sehr sauer sogar.“
Die Rückkehr des Lächelns, ein Zwinkern, ihre Arme vor der Brust verschränkt. Ich komplett konsterniert. Es hatte also überhaupt kein Problem gegeben damals, ich hatte alles richtig gemacht hinter der Düne. Erst am nächsten Tag, da versagte ich. Und merkte es nicht einmal.
Mühsam bahnte sich meine Stimme einen Weg aus meinem trockenen Mund. „Wie geht es dir? Was machst du? Wo wohnst du?“
Alles Fragen, die mich nicht wirklich interessierten. In Wahrheit wollte ich nur eine einzige Sache wissen: Warum holen wir es nicht einfach nach? Jetzt, sofort?
Sie lachte auf, lauthals, schallend. Ringsum drehten sich die Köpfe. Klar, sie war noch genauso scharfsinnig wie damals. Auch dafür hatte ich sie verehrt: sie kapierte verdammt schnell. Wenn sie wollte, konnte sie einem in den Kopf schauen, als wäre der aus Glas.
„Du bist süß. Aber vergiss es. In fünf Minuten treffe ich meinen Mann am Schönen Brunnen. Dann fahren wir zurück nach Hause. Es war trotzdem schön, dich wiedergesehen zu haben.“
„Wo ist das, dein Zuhause?“
„Auf Rügen. Direkt am Meer. Wo der Wind über die Dünen weht …“
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