„Pickel! Pickel! Pickel!“ riefen sie.

Die Redaktion der Wahrheit wählt ganz oft noch einen anderen Titel für die kleinen Kasperliaden und Eskapismen, die ich ihnen gesendet habe, ehe sie sie drucken. Geht für mich absolut i.O., nech? Ich dachte in meiner Verwirrung irgendwie, dass „9-Euro-Ticker“ ein guter Witz wäre…
Im Übrigen möchte ich absolut klarstellen: ich liebte das 9-Euro-Ticket über alles und finde, dass das Deutschland-Ticket eine der besten Erfindungen der Neuzeit ist, gleich nach Nabendynamo, Wikipedia und der Arte Mediathek – nie mehr, wirklich gar nie und nimmer nicht mehr möchte ich Lebenszeit an die Beschäftigung mit Fahrkartenautomaten und geistesschwachen Tarifsystemen irgendwelcher obskuren Verkehrsverbünde verlieren. Echt jetzt!

9-Euro-Ticker

Das 9-Euro-Ticket geht ins zweite Monat, Bürger und Bahn haben sich nach anfänglichen Verspätigungs-, pardon: Verständigungsproblemen aneinander gewöhnt, endlich ist ganz Deutschland unablässig auf Achse. Bzw. auf Doppeldrehgestell mit Energierückführungsbremse. Alle sind begeistert.

Womit ebenfalls niemand gerechnet hat: Dank der bezahlbaren Tickets sind altehrwürdige Berufe, die für ausgestorben galten, faktisch über Nacht neu erstanden. Wir sind daher im Regionalexpress zwischen Stuttgart (21) und Köthen/Anhalt(!) mitgefahren, um den reisenden Bader Fürchtegott Wandersattel in seiner rollenden Praxis zu begleiten.

»Für 9 Euro im Monat kriegen Sie nirgendwo bessere Geschäftsräume«, erklärt er uns. Der Zug verlässt pünktlich um 8 Uhr 5 die Ruinenlandschaft des Hauptbahnhof, derweil breitet Wandersattel seine Utensilien auf dem Tisch einer Vierersitzgruppe im ersten Stock des Zuges aus.

»Nicht einmal in der Fußgängerzone«, fügt er feixend hinzu, »Laufkundschaft war gestern.«

Und schon erklingt die Lautsprecherdurchsage, die den ersten Klienten des Tages aufruft. Ein hochinteressanter Fall wie sich schnell im ganzen Waggon herumspricht. Es ist ein junger Mann, der vor den Bader tritt, die Hosen herunter lässt und eine Zecke präsentiert, die sich in sein Skrotum vulgo Abrahams Wurstkessel verbissen hat.

»Ich habe den Blutsauger vorhin erst bemerkt, da war keine Zeit mehr, um den Arzt aufzusuchen. Ich bin nämlich auf Weg zum Flughafen«, erklärt er.

Inzwischen haben sich die ersten Zuschauer eingefunden. Eine Mutter ruft: »Lasst die Kinder nach vorne, sie wollen auch zusehen!«

Der Zug schlingert und hüpft über eine Serie von Weichen, als der Bader die Pinzette ansetzt, so dass die Zecke wie von selbst ihren Rüssel aus der Haut zurückzieht.

»So, ihr gutes Stück sieht praktisch wieder wie neu aus«, verkündet Wundersattel.

Es knackt kurz, als der Bader mit dem Daumennagel das Spinnentier auf dem Holzimitat des Tisches zerdrückt. Applaus brandet auf, aus den hinteren Reihen fliegen Münzen nach vorne. Jemand reicht dem Bader ein hartgekochtes Ei. Der bedankt sich höflich mit einer Verbeugung und fragt: »Wer ist als nächstes an der Reihe?«

Ein ältere Dame mit roter Bluse, weißer Hose und gelbem Sommerhut setzt sich rasch auf den Sitz gegenüber, schlüpft aus einem Schuh und legt den Fuß auf den Tisch. Im Publikum wechseln sich Zuschauer ab. Einige Leute, die sich für Füße weniger interessieren, kramen ihre Pausenbrote aus den Picknick-Körben, die Fetischisten rücken nach vorne.

Eine Diagnose ist schnell gestellt: »Eingewachsener Zehennagel… alles klar.«

Der Bader greift zur Säge, da drängt sich eine junge Frau in Polizeiuniform durch die Menschenmenge nach vorne. »Entschuldigung, ich müsste leider schon an der übernächsten Station aussteigen. Wäre es ok, wenn ich vorher?«

»Worum handelt es sich?«

»Eine entzündete Talgdrüse hinten an der Schulter. Sie ist angeschwollen und es sticht höllisch bei jeder Bewegung. Ich habe Angst, dass sie in einem schlechten Moment platzt. Zum Beispiel während einer Festnahme.«

Wundersattel zögert: »Nun, ich sehe die Dringlichkeit, aber ich würde die Entscheidung ungern treffen wollen, ohne das Publikum um seine Meinung gefragt zu haben…«

Doch schon wird er vom spontanen Sprechgesang des Publikums unterbrochen: »Pickel! Pickel! Pickel!« skandieren die mittlerweile einige Dutzend Zuschauer.

Die ältere Dame nimmt den Fuß vom Tisch und schleicht sich geschlagen zurück ins Bordrestaurant.

Die junge Frau macht Anstalten, die Bluse auszuziehen, da taucht der Schaffner auf. Er klatscht dreimal Autorität verkündend in die Hände und ruft: »Schluss jetzt mit dem Affenzirkus! Dies ist eine Regionalbahn und kein Irrenhaus!«

»Ooooch, Schade«, erklingt es in der Runde. Trotz vieler enttäuschter Mienen verteilt sich die Menge rasch im Waggon, bald sind auch die letzten Plätze wieder besetzt. Der Schaffner lässt sich seufzend gegenüber des Baders nieder.

»Jetzt wo ich schon mal hier bin«, beginnt er. »Ich habe mich vor sechs Wochen an einer Waschmaschine verhoben, seitdem ein Ziehen in der Leiste.«

»Na, da wir gerade ungestört sind, sehe ich mir das doch gleich mal an«, lächelt Wundersattel. »Wenn Sie sich bitte untenrum frei machen würden…«

taz „Die Wahrheit“, in der Ausgabe vom 6. Juli 2022


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert