Für die Anthologie WORTLAUT 30, erschienen im August 2024. Basierend wie stets auf nahezu wahrhaftigen Kindheitserinnerungen, erweckenden Straßenbegegnungen und spätem, sehr spätem, aber nie zu spätem Begreifen. Grundgütiger – rodelt eigentlich gerade meine Grammatik noch vorschriftsmäßig im Sattel? Egal.
Und der Haifisch, der trägt ein Gebiss
Mein Opa durchschritt und bestritt seine letzten zweieinhalb Lebensjahrzehnte ohne Zähne. Er war 58 Jahre alt, als ich zur Welt kam, wir tauschten also quasi Zähne – er verlor sie, ich bekam sie.
Wobei ich einschränkend zugeben muss, dass lange noch ein einziger Schneidezahn aus seinem Unterkiefer ragte. Zu der Zeit, als ich mich wirklich an ihn erinnern kann – und wirklich soll heißen: ohne Zuhilfenahme eines rot-braun verfärbten Farbfotoabzugs –, zu der Zeit also hatte ich dann schon 28 Milchzähne und er nur noch diesen einen Hexenhaken, der aus seiner unteren Kauleiste ragte.
Nun stellte Zahnlosigkeit damals, in der nicht mehr ganz jungen Bundesrepublik, die über ein durchaus ausdifferenziertes Gesundheitswesen verfügte, bereits ein Kuriosum dar, insbesondere bei einem Grundschullehrer im angehenden Ruhestand. Die Erklärung, die wir vom Opa höchstselbst erhielten, stellte uns allerdings voll und ganz zufrieden. Er habe, so der Ahn, selbstverständlich zunächst wie die meisten anderen Leute auch »echte« Zähne besessen – er sprach das Wörtchen »echte« aus, als stünde es in Anführungszeichen und wirke irgendwie konstruiert – doch sei er dieser Zähne irgendwann überdrüssig geworden und habe sich entschieden, sich ein künstliches Gebiss zuzulegen, ein prachtvolles Exemplar mit 28 strahlend weißen Porzellanbeißerchen, hergestellt vom besten Zahntechniker in ganz Nordbayern.
Dieses habe ihm, dem Opa, viele Jahre ganz hervorragende Dienste geleistet, bis er jedoch wieder einmal, wie es seine Gewohnheit gewesen, im Sommer nach Jugoslawien verreist sei und dort ein Bad in der Adria genommen habe.
Wir zweifelten keinen Augenblick an dieser Darstellung, selbst angesichts der Tatsache, dass der Opa höchstens mit einem Bus voller alter Kriegsveteranen losgefahren und bestenfalls bis Graz oder Villach gekommen sein mochte, zudem es sich bei diesem Bad um eines von maximal zweien handeln musste, die er im ganzen Jahr nahm.
Dort im blauen Wasser der Adria, so fuhr die Erzählung fort, sei dann jedoch völlig überraschend eine große Welle herbei geschwappt und habe ihm das Gebiss aus dem Munde gespült. Selbstverständlich habe er versucht, sich seine dritten Zähne zu bewahren, und sei dem Utensil wild entschlossen hinterher getaucht. Doch in diesem Moment sei, vielleicht ebenfalls von der außergewöhnlichen Welle empor gehoben und heran geworfen, ein gewaltiger Fisch aufgetaucht, mit größter Gewissheit ein Hai, welcher nicht lange zögerte und sich das Gebiss schnappte. Seit diesem Tage schwimme in der Adria ein kolossaler Fisch mit einem der qualitativ besten Gebisse der Welt herum und lasse sich in seiner Eitelkeit von den anderen Fischen bewundern.
Nun ist es schon so, dass ich diese Geschichte lange Zeit für bare Münze nahm. Ich dachte viele Jahre überhaupt nicht daran, die Behauptungen zu hinterfragen, bis ich irgendwann einmal um mein vierzigstes Lebensjahr herum draußen auf dem Bürgersteig, bei den Altglascontainern nicht weit von unserer Haustür entfernt, ein Gebiss fand. Ein menschliches, herrenloses, unappetitliches. Etwa um die Mittagessenszeit herum.
Genauer gesagt handelte es sich um den oberen Teil eines Gebisses, mit zehn oder zwölf Zähnen, die aufdringlich weiß in dem knallig pinkfarbenen Plastik steckten, das gesundes Zahnfleisch darstellen sollte. Mein Impuls war sofort, das Ding aufzuheben, doch mein Verstand schritt blitzschnell ein und hielt meine ausgestreckte Hand in letzter Sekunde fest. Er, mein Verstand, riet mir eindringlich, noch einmal gründlich nachzudenken.
Was sollte ich denn mit diesem Ding anfangen, nachdem ich es aufgehoben hätte? Noch besaß ich alle meine eigenen, inzwischen zweiunddreißig Zähne. Mein Bedarf war in dieser Hinsicht voll und ganz gedeckt. Wollte ich es vielleicht nur deswegen aufheben, weil es mich an etwas erinnerte, was jemand anderes verloren hatte?
Der Opa war schon viele Jahre tot, aber tatsächlich: in diesem Moment fiel mir wieder die Geschichte ein, von dem Gebiss, das ihm eine Welle aus dem Mund spülte, worauf ein Haifisch es in Besitz nahm und damit bis heute durch die Adria schwamm.
Ich stand da und vergaß vollkommen meine Umgebung. Autos rasten auf der vierspurigen Straße vorüber, Menschen warfen laut klirrend bunte Flaschen stets in den Container mit der falschen Farbe, ein Fahrradfahrer klingelte, ein Hund kackte an die Ecke, ein Betrunkener torkelte aus einem Spielsalon und zündete sich eine Zigarette an. Das erste Laub des Herbstes wirbelte braungelb über den Gehweg, das Gebäude gegenüber warf die letzten Sonnenstrahlen des Tages in flachem Winkel zurück auf die gepflasterten Flächen eines Firmenparkplatzes.
Der Haifisch. Der hat Zähne. Und die trägt er. Im Gesicht.
Leise summte ich ganz für mich alleine eine recht bekannte Melodie. Meine Gedanken kreisten um jenen letzten Zahn, den einsamen Wachposten vorne im Unterkiefer, der das Aussehen meines Opas so klar dominiert hatte, und zwar mit der eindeutigen Tendenz hin zu einer Hexe, wie sie in meiner Kindheit selbst die fortschrittlichsten Menschen noch in Bilderbücher zeichneten.
Wann eigentlich hatte mein Opa schließlich auch ihn verloren? War es dieser Zahn gewesen, an dem das gesamte künstliche Gebiss festgehangen hatte? Warum war er, der letzte Zeuge einer einst strahlenden, oder na ja: blühenden oder zumindest funktionierendem Zahnlandschaft, damals, beim sogenannten »Adria-Incident« nicht ebenfalls verloren gegangen? Überhaupt: dieses Gebiss da, das vor mir auf der Straße lag und das vielleicht noch biologische Spuren seines Besitzers oder jedenfalls vormaligen Besitzers bzw. vielleicht auch Besitzerin an sich trug, Zahnstein, Speichel, Schleim – ich wehrte mich heftig dagegen, in dieser Richtung weiter denken zu müssen. Dieses Gebiss war das erste überhaupt, das ich mit eigenen Augen sah. Meine Omas hatten ihre Dritten stets sorgfältig vor uns versteckt – und mein Opa… und hier ging mir ein Licht auf, ein gewaltiges Feuer entzündete sich über meinem Kopf, ja, die Wolkendecke riss auf, oder jedenfalls öffnete sich der Riss, durch den bereits das gleißende Licht der schräg stehenden Sonne fiel, noch viel weiter und goldene Fluten der Erkenntnis strömten, wie auf allerhöchsten Befehl und alle körperlichen und geistigen Übertragungskanäle nutzend, in mich ein. Endlich verstand ich, endlich erkannte ich die Wahrheit, die eine, unverrückbare, heilige, gewaltige Wahrheit:
Es hat. Dieses Gebiss. In der Adria. Nie. Gegeben.
Auch den Fisch hat es nie gegeben, mein Opa war nie zum Schwimmen ins Meer gestiegen – das war sowieso die absurdeste aller Annahmen gewesen. Er hatte nie im Leben auch nur einen einzigen künstlichen Zahn besessen. Aller Wahrscheinlichkeit nach, und das erschütterte mich dann doch ein wenig, hatte er im Leben auch kein einziges Mal einen Zahnarzt aufgesucht.
Eine der festesten Überzeugungen meiner Kindheit löste sich innerhalb von Sekunden in Rauch auf, den der Herbstwind, der durch die Straße strich, schnell verblies. Übrig blieb nichts als diese Oberkiefer-Prothese vor mir auf den schmutzig-feuchten Pflastersteinen.
Reiner Verstand, sagt man, darf niemals siegen, und so telefonierte ich mit einer mir bekannten Künstlerin, die in der Stadt einen gewissen Ruhm erlangt hatte, indem sie aus Knochen und Schädeln unter Verwendung von obszönen Mengen Gold, Silber und Glitzerstaub Reliquienschreine baute, deren Ästhetik irgendwo zwischen spätem Mittelalter und zeitgenössischem Mexiko angesiedelt sind. Anschließend rannte ich zurück nach Hause, schnappte mir eine rosafarbene Plastiktüte, die irgendwann einmal zum Transport von nichts anderem als einem Döner gedient hatte, und eilte zurück zu den künstlichen Zähnen. Sie lagen immer noch dort, sie warteten auf mich, nur auf mich. Niemand außer mir durfte sie an sich nehmen, wir waren füreinander bestimmt.
Ich stülpte mir die Tüte über die Hand und griff beherzt zu. Und dachte dabei an meinen Opa, den zahnlosesten und selbstverständlich liebsten Opa der Welt.
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